Herfried Münkler "Wir sind die Gegenstimme des Leichtsinns"

Deutschland diktiert Europa Sparsamkeit, Fleiß, Disziplin und Gehorsam. Muss Europa preußisch werden? Professor Herfried Münkler sagt: "Gewiss! Was denn sonst?"

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Herfried Münkler Quelle: Max Lautenschläger für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Professor Münkler, Frankreich hat in diesen Tagen den 600. Geburtstag von Jeanne d‘Arc gefeiert – und Präsident Nicolas Sarkozy hat nicht gezögert, sich als erster Gratulant der Jungfrau seiner „Grande Nation“ zur Wiederwahl zu empfehlen. In dieser Woche nun feiert Deutschland den 300. Geburtstag von Friedrich dem Großen. Taugt der „Alte Fritz“ der Kanzlerin und uns Deutschen als nationale Erinnerungsfigur?

Herfried Münkler: Kommt drauf an, auf welche Formen der Erinnerung wir uns einlassen – und wie positiv wir diese Erinnerungen bewerten. Auch die Franzosen hatten mit ihrer Jeanne ja nicht immer nur Glück: Sie stand lange für das katholische, königstreue Frankreich im Gegensatz zum republikanischen, das den Sturm auf die Bastille in den Mittelpunkt stellte. Dieser Mythos der inneren Spaltung Frankreichs ragte bis in die Zeit des Vichy-Regimes hinein. Es war die Klugheit von General Charles de Gaulle nach dem Zweiten Weltkrieg, dass er beide Traditionsstränge aufnahm und sagte: Als Lothringer komme ich aus demselben Land wie das Bauernmädchen Jeanne, aber zugleich bin ich ein Republikaner, der die revolutionäre Tradition Frankreichs hochhält.

Welche Länder (noch) als Spitzenschuldner gelten
Deutschland gilt als die Messlatte für ganz Europa. Das Risiko für andere Länder und Unternehmen wird oft in Relation zu Deutschland angegeben. S&P hat den Ausblick für Deutschland sogar von "negativ" auf "stabil" hochgestuft. Dennoch taucht an den Märkten immer wieder die Sorge auf, dass Deutschland in eine finanzielle Schieflage geraten könnte, wenn es statt Bürgschaften tatsächliche Hilfszahlungen an schwächere Euro-Länder leisten müsste. Quelle: dpa
Seinen Ausblick für Großbritannien hat S&P bereits im Mai 2009 auf "negativ" gesetzt. Noch hat das Top-Rating Bestand. Allerdings macht Großbritannien wenig Fortschritte: Das Wirtschaftswachstum bleibt schwach, zuletzt nahm die Regierung ihre Wachstumsprognose zurück. Quelle: Reuters
Mit einem Auge schauen die Kanadier immer auf den großen Bruder USA. Die Ratingherabstufung ist auch für die kanadische Wirtschaft nicht förderlich. Etwas Schutz bietet die starke Abhängigkeit der Wirtschaft vom boomenden Rohstoffsektor. Mit den hohen Rohstoffpreisen könnte es aber auch schnell vorbei sein, wenn die USA und mit ihr die Weltwirtschaft zu schwächeln beginnen. Doch das ist bislang alles Spekulation. Noch steht das Spitzenrating Kanadas nicht auf dem Prüfstand. Quelle: gms
Diskussionen über das Rating sind den Schweizern völlig fremd. Das Land genießt unverändert seinen Ruf als Hort der Stabilität. Auch Schweizer Anleihen sind bei Investoren noch beliebter als deutsche Bundesanleihen. Quelle: dpa
Auch an den Niederlanden ist die Finanzkrise nicht spurlos vorübergegangen. Zwar kann sich das Land am Anleihemarkt noch relativ günstig finanzieren. Doch S&P hat den Ausblick für das Land ebenfalls auf "negativ" gesetzt und damit ist die Topnote in Gefahr. Quelle: gms
Schweden hat die Wirtschaftskrise längst überwunden und wächst inzwischen wieder schneller als vor der Krise. Die Skandinavier profitierten von ihrer Exportstärke - und von der Landeswährung Krone, die in der Krise deutlich abwertete. Das hätte sich manch ein Euroland sicherlich auch gewünscht. Gleiches gilt für das Rating: Die Top-Note "AAA" für Schweden steht nicht zur Debatte. Quelle: ap
Dank seiner Öl- und Gasreserven ist Norwegen eines der reichsten Länder der Erde. Seine Kreditwürdigkeit wird derzeit von niemandem in Frage gestellt. Obwohl Norwegen von der globalen Rezession infolge der Finanzkrise kaum getroffen wurde, legte die Regierung ein großzügiges Konjunkturprogramm auf. Wegen der hohen Einnahmen aus der Rohstoffförderung erzielte die Regierung dennoch einen Haushaltsüberschuss von zehn Prozent. Quelle: gms

Auch Friedrich der Große personifiziert einen Spaltungsmythos,…

… und auch den kann man überwinden. Als Friedrich 1757 die Reichsarmee bei Roßbach schlägt, ist das auch ein Triumph Preußens über große Teile von West- und Süddeutschland. Meine hessische Heimatstadt Friedberg befand sich damals auf der „anderen Seite“: Im dortigen Rathaussaal hängt immer noch das Bild der Habsburgerin Maria Theresia von Österreich. Aber Thomas Mann hat in seinem Essay „Friedrich und die große Koalition“ den Preußenkönig mit Deutschland im Ersten Weltkrieg identifiziert.

Ist Preußen auch heute noch anschlussfähig? Taugt Friedrich als Figur, mit der man politisch wuchern kann?

Friedrich taugt nicht mehr als Kriegsheld, als der er im Dritten Reich verehrt wurde. Aber als aufgeklärter Herrscher und Peuplierer des Landes, als Modernisierer der Verwaltung, als Inbegriff der Nichtkorrumpierbarkeit und vor allem als „erste Diener seines Staates“ ist er gewiss anschlussfähig.

Sie spielen auf Friedrichs Beflissenheit und Bescheidenheit an?

Der „Alte Fritz“ war bis zur Selbstvernachlässigung bescheiden, hat selten seinen Rock gewechselt, sich nicht um Schnupftabakflecken auf seiner Weste geschert. Kein Glanzbedürfnis, kein Luxus, kein Urlaub vom Staatsgeschäft und auch kein zinsgünstiges Eigenheim… – ich würde schon sagen, dass dieser Friedrich hochaktuell ist. Das Neue Palais, das er in Potsdam bauen ließ, diente ihm als Beweis, dass nicht er, sondern Preußen sich nach dem Siebenjährigen Krieg noch was leisten konnte.

Erster Diener des Staates

Angela Merkel trinkt Sekt Quelle: dpa

Wir sind also mit Friedrich noch nicht fertig?

In einer Republik, in der Korruption ein drängendes Thema geworden und die Unzufriedenheit der Bürger mit ihren Politikern groß ist, bleibt Friedrich eine Herausforderung. Er legt nahe, von unseren Politikern zu erwarten, dass sie Diener ihres Staates sind – und dass sie kein glamouröses Bühnenleben aufführen, in dessen Abglanz wir uns sonnen.

Er stellt uns die Frage, ob wir es mit der Integrität von Bundeskanzlerin Angela Merkel halten oder mit den Geltungsbedürfnissen von Bundespräsident Christian Wulff?

Vergessen Sie nicht den Freiherrn zu Guttenberg, dessen Rückkehr auf die politische Bühne droht.

Angela Merkel hat sich jedenfalls, als sie Kanzlerkandidatin wurde, ausdrücklich auf den „Alten Fritz“ bezogen: Sie wolle Deutschland dienen als Kanzlerin.

Das war eine Distinktion gegenüber dem Regierungsstil Gerhard Schröders, den Zigarren im Kanzleramt, dem Rotwein, den Brioni-Anzügen. Die Deutschen können sich nicht recht entscheiden. Sie wünschen sich auf der einen Seite Staatsdiener, wie sie preußischer nicht sein können – und auf der anderen Seite Glanz und Glamour.

Friedrich selbst war sich da offenbar auch nicht so sicher. Wer in den ersten Schlesischen Krieg zieht mit den Worten: „Ich habe ein Rendezvous mit dem Ruhm!“…

… der setzt den Staat aufs Spiel für seine persönlichen Interessen, gewiss. Aber im weiteren Verlauf seiner 46 Regierungsjahre hat Friedrich sich tatsächlich als erster Diener seines Staates begriffen. Wenn Helmut Schmidt später gesagt hat, er sei der erste Angestellte der Bundesrepublik, dann war das eine sozialdemokratische Friedrich-Variation, die Merkel mit dem Dienstgedanken wieder auf konservative Füße gestellt hat.

Ist der politische Dienstgedanke original Friedrich?

Nein, aber Friedrich ist derjenige, der gegen den barocken Absolutismus des Südens, gegen die vielen Duodezfürsten in Deutschland, die sich damals ihr eigenes Miniatur-Versailles schaffen, das nordöstlich-protestantische Deutschland ins Spiel bringt – und dabei den Dienstgedanken in den Mittelpunkt stellt. Friedrich steht für das Nicht-Süddeutsche, das Nicht-Barocke, für die klassizistische, strenge Form. Das Leben, das er führt, ist – zumal in der Stilisierung durch seine Zeitgenossen – ein Leben, das nicht Selbstgenuss und Vergnügen zum Ziel hat, sondern die Umsetzung einer politischen Idee: Preußen muss Großmacht werden.

So expansiv und vaterländisch geht es heute nicht mehr zu. Was meint Merkel mit dem Satz: „Ich will Deutschland dienen“?

Dienen – das ist heute ein Statement gegen die Auflösung von Politik im Medienzauber und gegen das Verschwinden von Programmatik in Selbstinszenierung. Insofern ist Friedrich vor allem ein Jungbrunnen für bewusste Selbstbescheidung. Und für eine politische Identität, die nicht dadurch begründet ist, öffentlich möglichst prächtig in Erscheinung zu treten.

Bescheidenheit und Disziplin

Büsten des Preußenkönigs Friedrich II. Quelle: dpa

Insofern wäre das Dienstbekenntnis heute schon eine Leistung für sich?

Absolut. Es ist nicht selbstverständlich in einem Land, das politische Selbstdarsteller hofiert, mit Aussicht auf Erfolg seine Dienstbereitschaft zu kultivieren. So protestantisch sind wir ja alle nicht mehr, dass wir an Selbstheiligung durch Demut glauben.

Nicht an Heiligung, vielleicht aber an Heilung. Verheißt uns die Berufung auf „preußische Tugenden“ in diesen Monaten nicht auch die Rückkehr in eine Zeit, als Freiheit noch mit Verantwortung zu tun hatte und die Begleichung von Schulden noch Ehrensache war?

Doch, doch, bestimmt. Preußen kehrt als eine Art Gegenmittel in die konsumistische Gesellschaft zurück. Es wird lebendig, um den Leichtsinn der kapitalistischen Gesellschaft zu domestizieren. So wie Max Weber „Sparsamkeit“ und „Askese“ als Korrektiv für die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus identifiziert hat , ist „Preußen“ als verinnerlichte Form von Bescheidenheit und Disziplin gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass die „kreative Zerstörung“ des Kapitalismus, wie Joseph Schumpeter das genannt hat, nicht zu dessen Selbstzerstörung führt.

Diese positive Konnotation Preußens im Wirtschaftsleben ist nicht neu. Wir achten die Japaner als „Preußen“ Asiens – und schätzen die Piemontesen als „Preußen“ Italiens.

Wobei es jetzt höchste Zeit wird, daran zu erinnern, dass wir hier von einem „Preußen“ in Anführungsstrichen sprechen, von „Preußen“ als einer abgezogenen Idee. Das Preußen, das es mal als Staat gab, ist verdampft zu einer wirtschaftspolitischen Formel der Mäßigung. Es erzählt als Kontrastbild zur Hegemonie einer spielerisch gewordenen, nicht mehr nationalstaatlich einzuhegenden Wirtschaftsordnung von Fleiß und Schweiß, von Ordnung, Ehre und Verdienst. Insofern muss man, um genau zu sein, von einem Schwächetriumph „Preußens“ sprechen.

Politisch wirksam wird Preußen demnach nicht nur als Idee, sondern auch als Ideal. Lässt sich die ambivalente Figur Friedrichs des Großen in dieses Ideal hinein integrieren? Der frühe Friedrich, der vom Vater als Schöngeist und Weichling verhöhnt wird? Der mittlere Friedrich, der als Feldherr über Leichen geht? Oder der späte Friedrich, der verschrobene Landesvater?

So wie wir bei Preußen heute das Militärische herausschneiden, so schneiden wir bei Friedrich den Feldherren heraus. Und so wie wir den jungen Friedrich schätzen, das leichtsinnige Genie, und den gichtgeplagten Alten, den paternalistischen Aufklärer, so ist „Preußen“ heute vor allem lebendig als Idee von einem Staat, dessen Stärke darin besteht, nicht borniert zu sein. Preußen war immer attraktiv für Menschen, die man heute ausländische Fachkräfte nennen würde. Es bot den Hugenotten eine Zuflucht vor religiöser Repression und lud die Niederländer ein, um sumpfige Gebiete trockenzulegen.

Preußen in Anführungsstrichen meint aber auch, dass man nie zu genau hinschauen darf: Die Sparsamkeit der Preußen zum Beispiel ist ein Mythos – die Finanzpolitik Friedrichs zeichnet sich durch Münzverschlechterung, also Inflationierung aus.

Natürlich. Es gehört zum Mythos, dass er auf die historische Analyse verzichtet. Der Mythos fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Bedeutung.

Rettung des europäischen Projekts

Herfried Münkler mit einer Büste Friedrich des Großen Quelle: Max Lautenschläger für WirtschaftsWoche

Uns Deutschen mag dieser Preußen-Mythos ja recht gut gefallen. In Europa hingegen ist die Meinung verbreitet, dass Merkel es mit ihrem Willen zu Disziplin und Züchtigung ein wenig übertreibt.

Die Rolle Deutschlands in der EU war lange unpreußisch. Wir waren Zahlmeister und haben uns dadurch Reputierlichkeit zurückgekauft. Wenn es in Europa geknirscht hat, dann hat Helmut Kohl einen Scheck ausgestellt – und die Sache war erledigt. Für unsere Nachbarn war das bequem. Heute bekommt Griechenland die Quittung präsentiert für solche Nachlässigkeiten im Umgang mit Geld. Von daher ist es fast genial, dass wir in Angela Merkel eine Kanzlerin haben, die aus dem Osten stammt. Sie kann glaubwürdig mit der südwestdeutschen Füllhornpolitik brechen, weil sie schon aus biografischen Gründen nicht in der Tradition der Zahlmeister steht…

…und statt dessen als Zuchtmeisterin auftritt. Ruft das bei unseren Nachbarn aber nicht ein ganz anderes Preußenbild in Erinnerung? Das Pickelhauben-Preußen, das Gehorsam predigt und nach einer europäischen Vormachtstellung strebt?

Ich beobachte keine Frontstellung Deutschland versus Europa, sondern eine Teilung des Kontinents, die interessanterweise eine Trennlinie zwischen Norden und Süden ist. Von den Skandinaviern, den Niederländern, auch von den Polen, kriegen wir ja nicht gesagt, dass es mit uns zunehmend unangenehmer würde. Und auch in Frankreich oder Norditalien gibt es Leute, die sagen: Wir müssen uns am deutschen Modell – leistungsbezogene Entlohnung, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit – orientieren. Insofern würde ich sagen: Das Gefühl, die Deutschen seien unangenehm, ist heute vor allem im Club Méditarenée verbreitet.

Der Euro sollte ein Instrument zur Zähmung Deutschlands sein. Heute ist er – in der Hand der Deutschen – vor allem eine Reformpeitsche. Muss Italien wirklich preußisch werden?

Wenn wir „Preußen“ hier in Anführungszeichen setzen, würde ich sagen: Aber gewiss doch! Was denn sonst? Ohne Haushalts- und Ausgabendisziplin wird es nicht gehen. Das, was in der heutigen Europapolitik als „preußisch“ etikettiert werden kann, ist nichts anderes als die Rettung des europäischen Projekts. Es gibt in Europa einen unabweisbaren Zwang, auf „preußische Tugenden“ zurückzugreifen. Oder Europa scheitert.

In Europa würde demnach kein preußischer Weltgeist wehen? Allein die Macht des Faktischen drängt den Kontinent zur Erkenntnis?

Einerseits. Andererseits kommt es darauf an, auf die Macht des Faktischen gut vorbereitet zu sein, das heißt: Die Krise des schuldengetriebenen Lebensgenusses muss Menschen vorfinden, die prinzipiell bereit sind, sich zu ändern. Auf diese Weise kommt Preußen ins Spiel: Offenbar gelingt es uns Deutschen leichter als anderen, an das „Preußische“, so verdünnt es heute auch sein mag, wieder anzuknüpfen – und den Gürtel enger zu schnallen. Insofern ist uns Deutschen die Rolle des Zuchtmeisters zugewiesen: Wir sind die Gegenstimme des Leichtsinns.

Aus Frankreich war zuletzt zu hören, dass wir vor allem zu tüchtig und zu fleißig sind. Unser wirtschaftliche Dominanz und Exportweltmeisterlichkeit seien erdrückend.

Ich finde derlei Vorhaltungen erstaunlich. Schließlich sind die Reformen in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der globalen Konkurrenz durchgeführt worden – und ganz gewiss nicht, um Portugiesen oder Süditalienern zu schaden. Es geht darum, Deutschland und Europa im Vergleich zu anderen globalen Wirtschaftsregionen wettbewerbsfähig zu halten. Daran ist nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Eine solche Politik ist nun wirklich alternativlos.

Furcht und Bewunderung

Reichstag und die Flagge der EU Quelle: dapd

Ist Deutschland eine europäische Großmacht wider Willen?

Früher absichtsvoll und militärisch – heute absichtslos und ökonomisch.

Mercedesstern statt Eisernes Kreuz?

Ja, offenbar sind wir Deutschen, was den Auto- und Maschinenbau, vermutlich auch die Chemieindustrie anbetrifft, besonders tüchtig. Das tut andern weh – genauso wie es uns weh tut, nicht das ganze Jahr unter südlicher Sonne verbringen zu können. Wir gehen in grauen und nebligen Gefilden Tag und Nacht unserer Arbeit nach. Es sollte aber auch zum Borussischen gehören, daraus keinen großes Thema zu machen.

Was bedeutet es für den deutschen Politikstil, dass Europa wieder mit einer Mischung aus Furcht und Bewunderung auf Berlin blickt?

Die deutsche Politik muss vor allem klug sein, damit Bewunderung und Furcht nicht in Neid und Hass umschlagen. Das hat man jetzt gelegentlich in Griechenland beobachten können, als wieder die Geschichte mit dem Hakenkreuz ausgepackt wurde. Irgendwie scheinen da einige Grundtatsachen verrutscht zu sein: Wir stehen für die Schulden anderer gerade – und bekommen dafür die Symbole unserer Schande gezeigt.

Und – was lernen wir daraus?

Erstens, dass die deutsche Politik besonders verletzbar ist. Zweitens, dass unsere Verletzlichkeit denjenigen, die die politische und wirtschaftliche Macht der Bundesrepublik zügeln wollen, Möglichkeiten eröffnet, mit den Instrumenten von shaming und blaming zu arbeiten. Und drittens, dass wir zu politischer Umsicht verdammt sind. Wir sind gezwungen, auf Katzenpfoten Politik zu machen. Das ist gut so. Aber das muss man auch lernen.

Lernen, auf gleichsam unpreußische Weise preußische Politik zu machen?

Genau. Deutschland muss das Kunststück vollbringen, sein Preußentum als nicht preußisch zu camouflieren, um es zur Wirkung zu bringen.

Insofern ist das preußische Erbe…

...ein schwieriges, ja: ein gefährliches Erbe. Wir können mit diesem Erbe nicht wuchern. Die Deutschen können nicht auf Preußen zeigen und sagen: Wir wollen jetzt wieder so sein. Wir müssen behutsam umgehen mit dem preußischen Erbe – den einen Teil zurücknehmen und den anderen vorsichtig akzentuieren. Es kann daher nicht schaden, wenn wir uns Preußen nicht nur über Friedrich den Großen, sondern auch über Immanuel Kant nähern.

Das preußische Erbe

Reiterstandbild von Friedrich dem Grossen Quelle: dapd

Der Philosoph hat Friedrich als autoritären Aufklärer gefeiert: Nur wer ein starkes Heer zur Hand habe, könne es sich leisten, in so hohem Maße wie der Monarch die Freiheit des öffentlichen Räsonnements einzuräumen – bis sich zuletzt das freie Denken auf die Grundsätze der Regierung erstrecken werde.

Kant hat Friedrich zu schätzen gewusst –was für Friedrich die Strenge des Handelns war, war für Kant die Strenge des Denkens – eine Strenge, die uns bis heute prägt und zu eigen ist. Kant ist preußische Disziplin im Feld des Denkens. Die Kantschen Fragen – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – sind die Gebrauchsanleitung für die deutsche Politik innerhalb Europas, wenn sie Disziplin durchsetzen, also borussisch sein will – ohne sich angreifbar zu machen durch vorlautes Gehabe.

Auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) hat das gute Borussia gepflegt: In seinem Arbeitszimmer ließ er sich von Kant, dem Philosophen des Pflichtgefühls, und von Lessing, dem Dichter der Toleranz, über die Schulter blicken.

Die Bundesrepublik hat den Besatz des Reiterstandbilds Friedrichs Unter den Linden in Berlin umgekehrt. Beim Denkmal von Christian Daniel Rauch sind zu Füßen des großen Königs vor allem die Generäle versammelt – während sich die Philosophen, mit Verlaub: unterm Pferdearsch befinden. Heute sind die Generäle fast unsichtbar geworden – und die Philosophen sind nach vorne getreten.

Kann Frankreich damit umgehen? Seine relative wirtschaftliche Schwäche einsehen – und Deutschland trotzdem mögen? Ein Deutschland noch dazu, dass sich am Ende auch noch moralisch überlegen wähnt?

Gute Frage. Schon die alte Bundesrepublik war ökonomisch leistungsfähiger als das damalige Frankreich. Aber damals war der Krieg noch ein belastendes Thema – und der Zwang der deutschen Politik groß, sich hinter den Franzosen zu verstecken. Das ist heute nicht mehr in diesem Maße der Fall – und das spüren die Franzosen natürlich. Für Angela Merkel gilt die alte Staatsräson der Bundesrepublik nur noch bedingt. Sie lautete: „Wenn Deutschland eine politische Initiative startet, dann muss es Frankreich so lange von ihr überzeugen, bis es zuletzt der Überzeugung ist, es handle sich um seine Initiative.“ Anders gesagt: Vor zehn, zwanzig Jahren musste niemand in Frankreich zugeben, dass Deutschland zuweilen Recht hat. Heute schon.

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