Historiker Jörn Leonhard "Geschichte wiederholt sich nicht"

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Alleinschuld der Deutschen?

Eine solche Panikpolitik, noch dazu vom Militär bestimmt, ist heute aber nicht erkennbar, oder? 

Nein. Eine militärische Elite, die wie im Sommer 1914 die deutsche Politik diktierte und den Kanzler gewissermaßen marginalisierte, ist heute unvorstellbar.  

Der Historiker Fritz Fischer sprach Anfang der 60erjahre vom deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und löste damit einen Streit um die Kriegsschuldfrage aus. Jetzt macht der australische Historiker Christopher Clark mit seinem Buch „Die Schlafwandler“ Furore. Kommt es von ungefähr, dass die „Schlafwandler“-Metapher gerade hierzulande so gut ankommt? 

Clark hat mit seinem Buch einen Nerv getroffen, denn das Buch wird von vielen wahrgenommen als Entlastung von der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Merkwürdige ist nur: Kein ernstzunehmender Historiker vertritt heute noch die These von der Alleinschuld der Deutschen. Außerdem ist Clark ist mit seiner Schlafwandler-Formel sehr nah an einem anderen Muster der Weltkriegserklärung: Dass man mehr oder weniger blind in die Katastrophe „hineingeschlittert“ sei, so hat es der Kriegspremier David Lloyd George in seinen Kriegserinnerungen Anfang der 1930er Jahre formuliert. Anders gesagt: Wir können alle nichts dafür. Einen Schlafwandler, der auf dem Dachfirst geht, können sie nicht für seine Taten verantwortlich machen.

Und alle können ihre Hände in Unschuld waschen… 

Dabei träumte damals niemand. Die Akteure waren im Sommer 1914 alles andere als Schlafwandler. Sie waren überwach, sie litten an einem Übermaß an Informationen: Da tickerten Stunde um Stunde neue Nachrichten in die Kanzleien, über Truppenbewegungen und Teilmobilisierungen, die die Politiker und Militärs ständig dazu zwangen, zu reagieren. 

Glossar Konflikte

An der Beliebtheit des Schlafwandler-Bilds ändert das aber nichts. 

Als ich zuletzt in Berlin in einem Vortrag meine Kritik an Clark vortrug, ist eine pensionierte Oberstudienrätin aufgestanden und hat gesagt: Was fällt Ihnen ein? Da kommt ein sympathischer, gut deutsch sprechender Australier, der im britischen Cambridge lehrt, und sagt uns endlich, dass wir nicht an allem, was im zwanzigsten Jahrhundert schief gelaufen ist, schuld sind. Insofern hat Clarks Buch, ohne dass es die Intention des Autors war, auch eine exkulpierende Wirkung. Das treibt zum Teil absurde Blüten. Da argumentieren Publizisten plötzlich: Wenn uns jetzt bestätigt wird, dass wir am Ersten Weltkrieg gar nicht schuld waren, dann müssen wir auch über unsere Positionierung in der Europäischen Union neu nachdenken, dann muss Deutschland seine globale Verantwortung anders wahrnehmen: Als ob das Ergebnis des Ersten Weltkriegs darin aufgeht, dass Deutschland 250 Sanitätssoldaten nach Mali schickt. Das wirkt wie eine neue Nabelschau, und man wünscht sich sehr, dass man begreift: Der Weltkrieg ist mehr als die Frage nach der deutschen Verantwortung an seinem Ausbruch.

Trotzdem, es bleibt die Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs. 

Und die ist mit am schwierigsten zu beantworten. Nehmen Sie die Balkan-Krise 1912/13, in der es darum ging, die Erbmasse des zerfallenden Osmanischen Reichs zu verteilen: Da  entstand trotz schrecklicher ethnischer Verbrechen kein Flächenbrand, kein Weltkrieg, weil Großbritannien auf Russland und Frankreich, aber auch Deutschland auf Österreich-Ungarn mäßigend einwirkten. Die Internationalisierung des Konflikts wirkte damals noch deeskalierend. 1914, in der Endphase der Juli-Krise, funktionierte das nicht mehr. 

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