WirtschaftsWoche: Herr Leonhard, Bundespräsident Joachim Gauck hat mit Blick auf die russische Ukraine-Politik gesagt, er beobachte Denk- und Verhaltensmuster, "die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden gehalten haben". Was meint er damit?
Jörn Leonhard: Ich glaube, dass Gauck das nationale Denken des 19. und 20. Jahrhunderts meint. Der Bundespräsident argumentiert damit aus einem sehr deutschen Blickwinkel. Weil die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Katastrophengeschichte von Nationalismus und Nationalstaat gewesen ist, kann das heutige Deutschland für ihn nur der Motor für ein Europa sein, das die Kategorien des Nationalstaats hinter sich lässt.
Die aktuellen Bücher zum Ersten Weltkrieg
Zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erscheinen bereits seit Monaten zahlreiche neue Bücher: Gesamtdarstellungen, Neueditionen von Antikriegsromanen, zeitgenössische Verse, Bücher zu Einzelthemen. Bis zum Sommer sind weitere geplant. Einige Neuerscheinungen im Überblick:
Christopher Clark zeigt in seiner detaillierten Gesamtdarstellung die komplexen globalpolitischen Entwicklungen vor dem Ersten Weltkrieg. Er zeichnet die Entscheidungsmöglichkeiten nach und stellt dar, wie die Verantwortlichen «Schlafwandlern» gleich in einen Krieg hineinsteuern, weil Alternativen nicht genutzt werden.
(Christopher Clark: Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA, 39,99 Euro, 896 Seiten, ISBN-13: 978-3421043597)
Herfried Münkler legt ebenfalls eine Gesamtdarstellung zur «Urkatastrophe» mit zahlreichen Neubewertungen vor. Zentrale These: "Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, wird uns das ganze 20. Jahrhundert ein Rätsel bleiben."
(Herfried Münkler: Der Große Krieg, Rowohlt, Berlin, 2013, 928 Seiten, 29,95 Euro, ISBN 978-3-87134-720-7)
Adam Hochschild erzählt die historischen Ereignisse auch anhand zeitgenössischer Charaktere. Herausragend ist die Beschreibung der Unfähigkeit einzelner Handelnder, die Armeen in den Krieg schicken, ohne dass teils die Grundvoraussetzungen geschaffen sind.
(Adam Hochschild: Der große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg, 2. Auflage 2013, 525 S., 26,95 Euro, ISBN 978-3-608-94695-6)
Eine Gesamtdarstellung bietet auch Oliver Janz. Er geht Fragen der Verantwortung und der Möglichkeiten der Handelnden nach. Das Buch ist dabei sehr militärhistorisch geprägt.
(Oliver Janz: 14 Der Große Krieg, Campus, 2013, 415 S., 24,99 Euro ISBN 978-3-593-39589-0)
Der Historiker Jörn Leonhard beschreibt in seiner umfassenden Studie "Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieg" den Weg in einen Krieg, an dessen Ende ein völlig neue Welt steht. Dazu beschreibt er die Erfahrungen unterschiedlichen Zeitgenossen.
(Leonhard, Jörn, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 1157 S., 38 €, ISBN 978-3-406-66191-4)
Das komplexe Ursachengeflecht, das zum Ersten Weltkrieg führte, beleuchtet der Harvard-Professor Niall Ferguson in «Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert». Er beschreibt das politische Unvermögen, den Ehrgeiz und die Fehleinschätzungen, die zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts führten.
(Ferguson, Niall, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Pantheon, 512 S., 16,99 €, ISBN 978-3-570-55200-1)
Der Historiker Gerd Krumeich gibt in seinem schnellen Überblick "Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen" kurze prägnante Antworten über verschiedene Themenfelder wie die Schuldfrage, die Waffentechnik, aber auch den Keim zum Aufstieg des Nationalsozialismus.
(Gerd Krumeich: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, Verlag C.H.Beck, München, 155 S., 10,95 €, ISBN 978-3-406-65941-6)
An Hand von fünf Zeitgenossen erläutert der Historiker Tillmann Bendikowski, dass es im August 1914 keineswegs eine allgemeine Kriegsbegeisterung in Deutschland gab. An ihrem Beispiel beschreibt er die Gefühlswelten in den Wochen vor dem Kriegsausbruch.
(Tillmann Bendikowski, Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst - wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, C.Bertelsmann, 464 S., 19,99 €, ISBN: 978-3-570-10122-3)
Den Ablauf der Schlacht von Verdun 1916 beschreibt der Historiker Olaf Jessen in «Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts». Neben Plänen der Entscheidungsträger beschreibt er auch das Leid der Soldaten und die Konsequenzen der bis dato größten Materialschlacht der Geschichte.
(Jessen, Olaf, Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, C.H. Beck, 496 S., 24,95 €, ISBN 978-3-406-65826-6)
Yury und Sonya Winterberg beschreiben in "Kleine Hände im Großen Krieg" die Schicksale von Kindern im Krieg. Sie zeichnen nach, wie Hurrapatriotismus Ernüchterung weicht, der Krieg unbeschwerte Kindheit zerstörte und den Rest des Lebens prägte.
(Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg. Aufbau Verlag, Berlin, 368 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-351-03564-8)
Die diplomatischen Verwicklungen im Juli 1914 zeichnet der amerikanische Historiker Sean McMeekin nach. In seinem Buch «Juli 1914. Der Countdown in den Krieg» erstellt er in einer Chronologie ein Stimmungsbild anhand von Depeschen, Protokollen und Schriftwechseln. (McMeekin, Sean, Juli 1914. Der Countdown in den Krieg, Europaverlag, 560 S., 29,99 €, ISBN 978-3-944305-48-6)
Anhand von Fotos erzählt Guido Knopp in zwei- bis vierseitigen Kapiteln über den Alltag an der Front und in der Heimat. Das Buch ist keine Gesamtdarstellung, gewährt aber einen kurzweiligen Einblick in die Geschehnisse vor 100 Jahren.
(Guido Knopp: Der Erste Weltkrieg. Die Bilanz in Bildern, Verlag Edel Books, Hamburg, 2013, 384 S., 24,95 Euro, ISBN 978-3-8419-0241-2)
Ist es nicht vermessen, wenn der Bundespräsident glaubt, Deutschland könne in Europa die Rolle einer postnationalen Avantgarde spielen?
Die Deutschen haben aufgrund ihrer beschränkten und geteilten Souveränität nach 1949 einen viel größeren Abstand zu nationalen Deutungsmustern entwickelt als es in Frankreich, Großbritannien, Polen oder Russland der Fall war. Entsprechend selbstverständlich ist es für viele deutsche Politiker, vor allem Europa als ein Ensemble "postnationaler Nationalstaaten" zu begreifen. Manchmal unterschätzt das aber die anhaltende Bedeutung des Nationalen auch in der Gegenwart. Wir sprechen von Europa, aber wir tun es häufig in den Kategorien des Nationalstaats. Diese Ungleichzeitigkeit kann man im Osten Europas besonders gut erkennen: Für die baltischen Staaten war es besonders schwer, ausgerechnet in dem Augenblick, als sie 1989/1991 ihre nationalstaatliche Freiheit zurückbekamen, Souveränität nach Brüssel abzutreten. Anders gesagt: Der europäische Nationalstaat verändert sein Gesicht, weil er sich einerseits in den transnationalen Institutionen der Europäischen Union auflöst. Aber er bleibt andererseits, für viele Staaten und Menschen, ein entscheidender Bezugspunkt, zumal in der historischen Erinnerung.
Zur Person
Leonhard, Jahrgang 1967, ist Professor für westeuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er hat über die Geschichte des Liberalismus geforscht und mit "Die Büchse der Pandora" (C.H. Beck, 38 Euro) soeben das neue Standardwerk über den Ersten Weltkrieg vorgelegt.
Zeigt nicht das gemeinsame Erinnern an den Ersten Weltkrieg, dass wir im Sinne von Gauck transnationaler denken als früher?
Das mag auf den ersten Blick so wirken. Aber ich finde, dass das Gedenken an den Ersten Weltkrieg keinesfalls in einer Art von gemeinsamer europäischer Gedenkkultur aufgeht. Stattdessen gibt es eine Fülle national imprägnierter Gedächtnisse. In Deutschland steht das Thema Kriegsschuld im Mittelpunkt des Gedenkens. In Frankreich erinnert man sich der Opfer, der einfachen Soldaten, der Frauen und Kinder an der Heimatfront - und der Dritten Republik, die sich im Krieg behauptete und damit bewies, dass auch eine Demokratie einen langen Krieg bestehen konnte. In Großbritannien fragt man sich, ob der Erste Weltkrieg der Anfang vom Ende des Empire und insofern der falsche Krieg des 20. Jahrhunderts war. In Belgien schließlich geht es vor allem um die Gewaltverbrechen der deutschen Besatzer an der Zivilbevölkerung. Es ist wichtig, diese nationalen Unterschiede zu verstehen und sie auszuhalten, bevor man über europäisches Gedenken spricht. Wir dürfen nicht mit artifiziellen europäischen Floskeln so tun, als gäbe es keine nationalen Gedächtnisse mehr.
Sie halten nichts von offiziellen Gedenkterminen - und glauben nicht, dass sie verbindliche Bilder produzieren?
Ich möchte vor allem daran erinnern, dass das Spektrum von Erinnerungen sehr breit ist. Symbolische Gesten prägen unsere Bildgedächtnisse, aber darin gehen Erinnerungen nicht auf. Gauck und der französische Staatspräsident Francois Hollande werden Anfang August wie 1962 im Vorfeld der Elyssée-Verträge Adenauer und de Gaulle in Reims sowie 1984 Kohl und Mitterand in Verdun eindrucksvolle Bilder eines gemeinsamen deutsch-französischen Gedenkens vermitteln. Aber es gibt auch andere, spezifisch national bestimmte Gedenkmomente, etwas wenn man in Frankreich im September an den Ausgang der für sie erfolgreichen Marne-Schlacht erinnern wird. Es gibt traumatische Momente, die so sensitiv sind, dass man sich ihrer nicht von vornherein gemeinsam erinnern kann. Man muss diese Unterschiede begreifen und aushalten.
Putin fordert Prinzip Kerneuropa heraus
Bezweifeln Sie etwa, dass die europäische Integration eine Erfolgsgeschichte ist?
Keinesfalls. Dass der Konflikt zwischen Deutschland und seinen Nachbarn, dieser Katarakt von Krieg und Gewalt seit der Frühen Neuzeit, in eine Geschichte der Kooperation verwandelt werden konnte, ist eine große Errungenschaft. Das Problem ist, dass man daraus eine Art europäische Meistererzählung gemacht und geglaubt hat, dass dieses Modell auch in anderen Konflikträumen wirken kann. Aber an den Peripherien Kerneuropas wird es nicht erst seit heute in Frage gestellt. Die Explosion ethnischer Gewalt in Jugoslawien in den 1990er Jahren war dafür ein früher Beleg. In der Zerfallszone der alten drei Imperien - des russischen Zarenreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches - können wir bis heute beobachten, dass sich vielerorts keine stabile Staatlichkeit entwickelt hat, dass vielmehr der Kampf um Nations- und Staatsbildungen das europäische Meisternarrativ herausfordern. Hier kommen die Erbschaften des Ersten Weltkriegs wie Bojen immer wieder an die Oberfläche.
Und wir fallen förmlich aus der Zeit und verstehen unser Weltbild nicht mehr, wenn wir mit Verhaltensweisen konfrontiert werden, die wir für überwunden hielten?
Ich gebe ihnen ein sehr aktuelles Beispiel. Vor wenigen Wochen haben die ISIS-Kämpfer an der syrisch-irakischen Grenze große Schilder aufgestellt: Hier endet das Sykes-Picot-Abkommen. Es ist das Abkommen, in dem Briten und Franzosen 1916 ihre kolonial gedachten Einflusssphären aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches abgesteckt haben. Das Gebiet des heutigen Syrien fiel damals an Frankreich, das des Irak an Großbritannien. Was ich damit sagen will: In Europa sind Sykes und Picot vergessen. Für die ISIS-Kämpfer aber ist das ein ganz präsentes Ereignis, aus dem sie jederzeit politisches Kapital schlagen können.
In Russland wiederum ist es Putin, der das Prinzip Kerneuropa herausfordert und den Nationalismus ganz unverblümt zurück auf die politische Tagesordnung bringt.
Von Russland lernen wir in diesen Wochen vor allen Dingen, dass man mit Geschichtspolitik konkrete Politik machen kann. Wenn Russlands Staatspräsident Putin argumentiert, in Kiew sei das russische Imperium entstanden und in Kiew versuche der Westen, das russische Imperium zu Grabe zu tragen, dann halten wir das im Westen für eine überwundene Instrumentalisierung der Geschichte. Dabei haben viele Politiker in Westeuropa unterschätzt, dass imperiales Denken nicht mit dem Untergang des Imperiums aufhört– und die Sowjetunion war durchaus in Fortsetzung zum Zarenreich vor 1917 ein multiethnisches Imperium. Das zu verstehen, heißt nicht, Putin zu entschuldigen. Ich kann die russische Position aber ohne die imperial gedachte Nation als geschichtspolitisches Argument nicht erklären. Diese Aspekte hat man in Brüssel und im NATO-Hauptquartier völlig unterschätzt...
... und Russland stattdessen gedemütigt?
So wird es jedenfalls nicht nur von Putin gesehen, sondern auch von vielen Intellektuellen in Russland. Die argumentieren: Wir haben dafür gesorgt, dass der Zerfall der Sowjetunion in relativ zivilisierten Formen abgelaufen ist - und was haben wir dafür bekommen? Nichts. Stattdessen ist Europa expandiert - und hat kein Verständnis gezeigt für die Phantomschmerzen des 1989/91 untergegangenen Imperiums. Das ist natürlich keine Rechtfertigung für die Annexion der Krim, aber die andere Seite zu verstehen und ihr Verhalten zu erklären heißt nicht exkulpieren.
Beliebte Analogien
War mangelndes Verständnis für die Lage und die Sichtweisen anderer Nationen auch im Sommer 1914 ein Grund für die Zuspitzung der Krise?
Ich verstehe, dass es eine enorme Nachfrage nach solchen direkten Analogien gibt. Die Gegenwart ist extrem unübersichtlich geworden - und das aktuelle Interesse an der Geschichte des Ersten Weltkriegs geht mit der Erwartung an die Historiker einher, sie mögen mit der Komplexität der Vergangenheit auch ein Stück weit die Komplexität der Gegenwart strukturieren. Aber man muss sehr vorsichtig sein. Geschichte wiederholt sich nicht. Die Konstellationen sind immer andere. Wir steigen nicht zweimal in denselben Fluss.
Wir können nicht aus der Geschichte lernen?
Ich kann aus der Juli-Krise jedenfalls nicht lernen, wie wir heute die Krim-Krise lösen. Aber ich kann den Blick für Phänomene der Gegenwart schärfen - wenn ich sie mit der Vergangenheit vergleiche, um Gemeinsamkeiten, vor allem aber Unterschiede herauszuarbeiten. Ich glaube nicht an direkte Analogien, das mag suggestiv wirken und die Verkaufszahlen mancher Bücher stimulieren. Was es gibt, sind "Analogien mittlerer Reichweite": Wir sehen in der Gegenwart mehr, wenn wir in die Geschichte blicken und uns auf die Komplexität einer Krise wie der des Sommers 1914 einlassen.
Von welchen Analogien mittlerer Reichweite sprechen Sie?
Wir haben eben schon eine angesprochen. Die subjektive Wahrnehmung, eine Macht im Niedergang zu sein. Das Gefühl zu haben, man sei gedemütigt worden. Oder umgekehrt einen Platz zu beanspruchen, der einem nicht zugestanden wird. Das spielt in der Politik, damals wie heute, eine große Rolle - weil die Selbstwahrnehmung für die politischen Akteure zu einem handlungsleitenden Faktor wird und sich ihre eigene Wirklichkeit schafft. Heute gilt das für Russland, aber auch für China.
Vor 1914 galt das mehr oder weniger für alle Akteure.
Europa war ein Kontinent der Abstiegsangst?
In vieler Hinsicht bestimmten solche subjektiven Ängste das Klima. Das Osmanische Reich nahm sich als "kranker Mann am Bosporus" wahr. Die Habsburger Monarchie hatte Angst davor, diesem Beispiel zu folgen. Russland, das 1904/05 in Asien den Krieg gegen Japan verloren hatte, war zutiefst verunsichert und konzentrierte sich auch zur Kompensation auf den Südosten Europas. Und das Deutsche Reich litt unter massiver Einkreisungsphobie. In Berlin ging die Angst um, nicht als das anerkannt zu werden, was man doch offenkundig war: eine extrem erfolgreiche Industriegesellschaft, ein aufsteigender Nationalstaat. Gerade das fortschrittsstolze Besitz- und Bildungsbürgertum prägte das Gefühl: Wenn uns die Anerkennung für unsere ökonomischen und kulturellen Leistungen, unseren eigenen Weg in die Moderne, versagt wird, müssen wir unsere gewachsenen Ansprüche eben im Konflikt in der Welt durchsetzen. Es ist kein Zufall, dass die Kriegsbegeisterung im deutschen Bürgertum im Sommer 1914 und zumal in den intellektuellen Eliten viel stärker ausgeprägt war als bei Bauern oder Arbeitern.
Hat das deutsche Wirtschaftsbürgertum damals nicht ganz im Gegenteil darauf spekuliert, dass ein Krieg viel zu kostspielig und deshalb unwahrscheinlich ist?
Es gibt vor 1914 in der Tat sehr viele Wirtschaftsexperten, die nachzuweisen versuchen, dass der drohende Krieg gar nicht stattfinden kann. Ihr Argument: Die Gesellschaften im Westen Europas seien längst viel zu abhängig voneinander, durch globale Waren- und Wissensströme und Migration viel zu sehr miteinander verflochten. Speziell Deutschland, so wurde argumentiert, sei extrem importabhängig und ein Gewinner der Globalisierung des späten 19. Jahrhunderts.
Und was lernen wir daraus?
Handel und wirtschaftliche Verflechtung sind jedenfalls keine Immunisierung gegen den Krieg. Auch hochindustrialisierte Gesellschaften führen Krieg, nicht nur agrarische. Und die Vorstellung, die Globalisierung sei ein wirksamer Schutz gegen den Nationalismus hat schon 1914 nicht funktioniert. Im Gegenteil. Man kann dieses Argument spielend leicht umdeuten. Das lässt sich am Beispiel Walter Rathenaus sehr schön zeigen, der im Krieg die Rohstoffversorgung Deutschlands revolutionierte. Deutschland gelang es innerhalb weniger Wochen, seine globale Friedensproduktion auf eine sehr effiziente, nationale Kriegsproduktion umzustellen - obwohl es durch die britische Seeblockade vom Weltrohstoffmarkt weitgehend abgeschnitten war.
Zeichen von Schwäche
Die Vorkriegszeit war nicht nur von großer ökonomischer, sondern auch von politischer Dynamik geprägt - auch das erleben wir heute.
Wir sind lange von der Vorstellung geprägt gewesen, vor 1914 habe es feste Bündnissysteme gegeben, die wie zwei Züge aufeinander zurasten. Wir wissen heute, dass das so nicht stimmt. Die politische Situation war nicht festgefahren, sondern höchst instabil. Es gab Aufsteiger und Absteiger. Es gab die begründete Hoffnung, Bündnisse zu sprengen, ihre Stabilität auszutesten. Vor allem gab es eine große Verunsicherung, was die eigenen Machtperspektiven anging. Kurzum, die Welt war in Bewegung, ohne dass die Nationalstaaten eine Vorstellung davon hatten, wohin die Dynamik führen würde. Speziell die imperial agierenden Großmächte stellten sich damals die Frage nach der Überdehnung ihrer Ressourcen.
Ein Problem, vor dem heute vor allem die USA stehen?
In den USA ist das jedenfalls das Dauerthema: Steigt Amerika ab? Steigt China auf? Haben wir noch genügend Ressourcen, um den Aufgaben einer mehr oder weniger unilateralen Weltmacht nachzukommen - und wenn nicht: Konzentrieren wir uns auf den Pazifik oder den Atlantik?
Ehrlich gesagt, haben wir eher den Eindruck, dass die Politik es gegenwärtig gar nicht mehr schafft, uns Perspektiven aufzuzeigen und uns vor Alternativen zu stellen. Dass sie nur noch dem Geschehen hinterher amtiert. Dass sie nur noch auf Krisen reagiert, sie aber nicht mehr zu steuern versteht.
Ein wichtiger Punkt. Von John F. Kennedy wissen wir, dass er während der Kuba-Krise Barbara Tuchmans „Guns of August“ gelesen hat. Es ist ein Buch über den Ersten Weltkrieg, das zeigt, dass es auch in weltpolitisch zugespitzten Situationen immer eine Vielzahl von Optionen und Wegrichtungen gibt. Für uns Historiker heißt das, dass wir auch rückblickend alle Handlungsalternativen darstellen müssen. Wir müssen dem Leser von heute gleichsam die vergangene Zukunft der Zeitgenossen von 1914 vergegenwärtigen. Nur weil wir wissen, welche der vielen Optionen schließlich zum Kriegsausbruch geführt haben, neigen wir viel zu oft dazu zu sagen: Es kam, wie es kommen musste. Gegen diesen Satz muss ich als Historiker ankämpfen.
Haben die Politiker damals die Fähigkeit verloren, in Alternativen zu denken?
Das Problem war, dass man 1914 fast nur noch mit Unterstellungen operierte. Und das hieß: Man unterstellte dem Gegner genau das, was in das eigene Szenario passte. Und was alternative Möglichkeiten hätten sein können, blendete man im Gegenzug aus. So kam es zu einer Art self fulfilling prophecy: Aus den ganz widersprüchlichen Informationen wurden nur noch diejenigen ausgewählt, die den Eindruck der einen alternativlosen Entscheidung stützten. Dadurch entwickelte sich ein Sog, dadurch verselbständigte sich eine politische und militärische Eigenlogik, die sich gewissermaßen über die Akteure hinweg setzte.
An welcher Stelle lässt sich das besonders deutlich erkennen?
An der Beschleunigung der militärischen Systemlogik Ende Juli1914, als es immer mehr um die Mobilmachungen geht, um die Angst, durch eine falsche Entscheidung in eine schlechtere Ausgangsposition als der Gegner zu kommen. Am Ende führt das dazu, dass die Ressource Vertrauen immer mehr ausgeschaltet wird. Man hört nicht mehr aufeinander, bestätigt sich nur noch die Vorteile übereinander...
... und versucht schließlich, dem Gegner zuvorzukommen.
Richtig. Und in diesem Moment siegten die Militärs, die argumentierten: Wenn wir jetzt nicht losschlagen, geraten wir ins Hintertreffen. Das gilt für Deutschland mit seiner Zweifrontenproblematik im Westen und Osten Europas, aber auch für die übrigen Akteure. Indem man in immer engeren Zeitfenstern dachte, verengte sich der Horizont der Handlungsmöglichkeiten immer mehr. Die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen, trat in den Hintergrund, ja galt als Zeichen der Schwäche.
Alleinschuld der Deutschen?
Eine solche Panikpolitik, noch dazu vom Militär bestimmt, ist heute aber nicht erkennbar, oder?
Nein. Eine militärische Elite, die wie im Sommer 1914 die deutsche Politik diktierte und den Kanzler gewissermaßen marginalisierte, ist heute unvorstellbar.
Der Historiker Fritz Fischer sprach Anfang der 60erjahre vom deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und löste damit einen Streit um die Kriegsschuldfrage aus. Jetzt macht der australische Historiker Christopher Clark mit seinem Buch „Die Schlafwandler“ Furore. Kommt es von ungefähr, dass die „Schlafwandler“-Metapher gerade hierzulande so gut ankommt?
Clark hat mit seinem Buch einen Nerv getroffen, denn das Buch wird von vielen wahrgenommen als Entlastung von der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Merkwürdige ist nur: Kein ernstzunehmender Historiker vertritt heute noch die These von der Alleinschuld der Deutschen. Außerdem ist Clark ist mit seiner Schlafwandler-Formel sehr nah an einem anderen Muster der Weltkriegserklärung: Dass man mehr oder weniger blind in die Katastrophe „hineingeschlittert“ sei, so hat es der Kriegspremier David Lloyd George in seinen Kriegserinnerungen Anfang der 1930er Jahre formuliert. Anders gesagt: Wir können alle nichts dafür. Einen Schlafwandler, der auf dem Dachfirst geht, können sie nicht für seine Taten verantwortlich machen.
Und alle können ihre Hände in Unschuld waschen…
Dabei träumte damals niemand. Die Akteure waren im Sommer 1914 alles andere als Schlafwandler. Sie waren überwach, sie litten an einem Übermaß an Informationen: Da tickerten Stunde um Stunde neue Nachrichten in die Kanzleien, über Truppenbewegungen und Teilmobilisierungen, die die Politiker und Militärs ständig dazu zwangen, zu reagieren.
Glossar Konflikte
Unter Terrorismus (vom lateinischen Wort terror „Furcht, Schrecken“) versteht man Gewalt und Gewaltaktionen die politisch, ideologisch oder religiös motiviert sind und die bestehende Ordnung verändern wollen. Er verfolgt längerfristige Ziele und operiert in der Illegalität. Trotz des primären Mittels der physischen Gewalt (Entführungen, Attentate, Sprengstoffanschläge) will Terror eher Unsicherheit und Schrecken verbreiten und damit auf gesellschaftliche Verhältnisse aufmerksam machen und Veränderungen erzwingen. Bei Aktionen wird nicht nur der Feind attackiert, sondern auch der Tod Unbeteiligter geplant oder billigend in Kauf genommen. Terrorgruppen verfügen in der Regel über Logistik und Finanzierungsquellen und vertrauen auf eine Umfeld aus Unterstützern und oder Sympathisanten.
Ein allgemein akzeptierte wissenschaftliche Definition für Terrorismus gibt es jedoch nicht.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
"Die RAF und die Medien" von Andreas Elter. Erschienen in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburger Edition HIS Verlag, Hamburg 2007
bezeichnet laut Duden einen gewalttätigen, auf Vernichtung oder Zerstörung zielenden Angriff.
Dabei unterscheidet man zwischen:
vom lateinischen Wort attentatum, was „Versuch an jemanden oder etwas“ heißt. Dabei will der Attentäter beispielsweise einen seiner Meinung nach wichtigen Entscheidungsträger schädigen oder töten. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen wird die Tat meist öffentlichkeitswirksam ausgeübt.
Bekannte Beispiele sind die Erschießung der US-Präsidenten Abraham Lincoln und John F. Kennedy oder das Attentat auf Papst Johannes Paul II.
Als Sabotage bezeichnet man die absichtliche Störung eines wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Ablaufs zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Dabei können aktiver oder passiver Widerstand, Störung des Arbeitsablauf oder die Beschädigung und Zerstörung von Anlagen, Maschinen oder Ähnliches eine Rolle spielen.
Quelle: Duden
Allgemein bezeichnet Krieg einen organisierten, mit Waffen gewaltsam ausgetragenen Konflikt zwischen mindestens zwei Parteien wie Staaten. Die Ursachen können religiöser, ideologischer oder wirtschaftlicher Natur sein. In der Vergangenheit gab es zudem auch Kolonial- und Unabhängigkeitskriege. Neben konventionellen, können atomare, bakteriologische oder chemische Waffen eingesetzt werden. Zudem werden Kriege an Land, zur See und in der Luft ausgetragen. Dabei wird räumlich unter anderem zwischen lokal begrenztem, regionalem oder einem Weltkrieg unterschieden.
Bei den Zielen eines Krieges wird zwischen Angriff-, Intervention-, Sanktion-, Verteidigungs- und Befreiungskriegen differenziert.
Auch die Formen unterscheiden sich:
Beim regulären Krieg kämpfen beispielsweise staatliche, stehenden Armeen gegeneinander. Ein Volkskrieg bezeichnet einen langwierigen Krieg mit großen Heeren. Stammen die Heere aus dem Wehrdienst des eigenen Volkes spricht man von einem Milizkrieg. Beim Partisanen- oder Guerillakrieg wird der Konflikt zwischen nichtregulären Streitkämpfen einer feindlichen Staatsarmee fortgeführt.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2011.
ist der organisierte, mit Waffen gewaltsam ausgetragenen Konflikt zwischen sozialen Gruppen der Bevölkerung eines Staates.
An der Beliebtheit des Schlafwandler-Bilds ändert das aber nichts.
Als ich zuletzt in Berlin in einem Vortrag meine Kritik an Clark vortrug, ist eine pensionierte Oberstudienrätin aufgestanden und hat gesagt: Was fällt Ihnen ein? Da kommt ein sympathischer, gut deutsch sprechender Australier, der im britischen Cambridge lehrt, und sagt uns endlich, dass wir nicht an allem, was im zwanzigsten Jahrhundert schief gelaufen ist, schuld sind. Insofern hat Clarks Buch, ohne dass es die Intention des Autors war, auch eine exkulpierende Wirkung. Das treibt zum Teil absurde Blüten. Da argumentieren Publizisten plötzlich: Wenn uns jetzt bestätigt wird, dass wir am Ersten Weltkrieg gar nicht schuld waren, dann müssen wir auch über unsere Positionierung in der Europäischen Union neu nachdenken, dann muss Deutschland seine globale Verantwortung anders wahrnehmen: Als ob das Ergebnis des Ersten Weltkriegs darin aufgeht, dass Deutschland 250 Sanitätssoldaten nach Mali schickt. Das wirkt wie eine neue Nabelschau, und man wünscht sich sehr, dass man begreift: Der Weltkrieg ist mehr als die Frage nach der deutschen Verantwortung an seinem Ausbruch.
Trotzdem, es bleibt die Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs.
Und die ist mit am schwierigsten zu beantworten. Nehmen Sie die Balkan-Krise 1912/13, in der es darum ging, die Erbmasse des zerfallenden Osmanischen Reichs zu verteilen: Da entstand trotz schrecklicher ethnischer Verbrechen kein Flächenbrand, kein Weltkrieg, weil Großbritannien auf Russland und Frankreich, aber auch Deutschland auf Österreich-Ungarn mäßigend einwirkten. Die Internationalisierung des Konflikts wirkte damals noch deeskalierend. 1914, in der Endphase der Juli-Krise, funktionierte das nicht mehr.
Musterbeispiel für gescheitertes Risikomanagement
Warum nicht?
Weil man auf Risikostrategien umschaltet. Plötzlich geht es um Blankoschecks, die sich die fünf Großmächte wechselseitig ausstellen, und das Austesten der jeweiligen Angriffsbereitschaft. Und es gab nicht allein den deutschen Blankoscheck für Wien, sondern auch die russische Unterstützung für Serbien und die französische für Russland – diese internationale Sicht ist wichtig und ein Verdienst von Clarks Buch. Die Deutschen etwa wollen herausfinden, ob Russland wirklich bereit ist, wegen Serbien in einen Krieg zu ziehen, ob Großbritannien im Krisenfall wirklich fest zu seinen Bündnispartnern steht. Zur Eskalation trugen damals alle Parteien bei, aber der Schlüssel zur Deeskalation lag wesentlich in Berlin und London. Insofern ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch ein Musterbeispiel für das Fiasko politischen Risiko-Managements. Man kalkuliert den Krieg ein und macht sich keine Vorstellung von den verheerenden Dimensionen eines einmal ausgebrochenen Krieges.
Weil es dafür kein Beispiel gab?
Jedenfalls gab es keinen zurückliegenden Krieg als Warnung, keinen historischen Bezugspunkt, kein Vergleichsmodell. Nach der Mobilmachung wurden alle Pläne und Szenarien innerhalb von Tagen und Wochen Makulatur. In der Spandauer Zitadelle lagerten die Goldreserven der Reichsbank, die die Kriegsfinanzierung sicherstellen sollten. Nach wenigen Wochen waren alle Reserven aufgebraucht. Zur gleichen Zeit entwickelten sich die ersten Munitionskrisen . Das Ausmaß der Verluste zu Beginn des Krieges überstieg alle Erwartungen. Kurzum: Man kalkulierte den Gedanken an einen Krieg ein, ohne die konkreten Wirkungen eines Krieges abschätzen zu können.
Wird nicht Ähnliches Wladimir Putin und seiner Ukraine-Politik vorgeworfen? Innenminister Wolfgang Schäuble hat dazu einen besonders scharfen historischen Vergleich gezogen: Solche Methoden wie auf der Krim und in der Ukraine habe Hitler schon im Sudetenland angewendet.
Bei Schäuble muss man genau hinschauen: Er hat verglichen, nicht gleichgesetzt. Politisches Denken und Argumentieren hat naturgemäß viel mit Analogiebildung zu tun. Politiker greifen zur Legitimation ihres Handelns auf historische Beispiele zurück. Allerdings sind ihre Vergleiche in der Regel nicht auf ein besseres Verstehen, sondern auf politische Wirkung hin berechnet. Sie setzen nicht auf historische Komplexität, sondern auf den historischen Kurzschluss. Das dient der Aufmerksamkeit und nicht der Entwicklung eines abstrakten Arguments.
Und für das fühlen Sie sich zuständig?
Das gehört meinem Verständnis als Historiker: Es kommt darauf an, mit dem Vergleich das Spezifische eines Phänomens zu verstehe und zu erklären, in dem man es von anderen Phänomenen unterscheidet. Eine besondere Entwicklung etwas Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert gibt es nur vor der indirekt mitgedachten Vergleichsfolie der Entwicklung in Frankreich oder England. Am Ende geht es darum, aus der Zwangsjacke des Schwarz-Weiß-Denkens herauszukommen, daher auch meine Warnung vor den einfachen „Lehren aus der Geschichte“. Die Farbe der Geschichte ist ein vielfältiges, spannendes Grau – darauf muss man sich einlassen.