




WirtschaftsWoche: Herr Leonhard, Bundespräsident Joachim Gauck hat mit Blick auf die russische Ukraine-Politik gesagt, er beobachte Denk- und Verhaltensmuster, "die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden gehalten haben". Was meint er damit?
Jörn Leonhard: Ich glaube, dass Gauck das nationale Denken des 19. und 20. Jahrhunderts meint. Der Bundespräsident argumentiert damit aus einem sehr deutschen Blickwinkel. Weil die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Katastrophengeschichte von Nationalismus und Nationalstaat gewesen ist, kann das heutige Deutschland für ihn nur der Motor für ein Europa sein, das die Kategorien des Nationalstaats hinter sich lässt.
Die aktuellen Bücher zum Ersten Weltkrieg
Zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erscheinen bereits seit Monaten zahlreiche neue Bücher: Gesamtdarstellungen, Neueditionen von Antikriegsromanen, zeitgenössische Verse, Bücher zu Einzelthemen. Bis zum Sommer sind weitere geplant. Einige Neuerscheinungen im Überblick:
Christopher Clark zeigt in seiner detaillierten Gesamtdarstellung die komplexen globalpolitischen Entwicklungen vor dem Ersten Weltkrieg. Er zeichnet die Entscheidungsmöglichkeiten nach und stellt dar, wie die Verantwortlichen «Schlafwandlern» gleich in einen Krieg hineinsteuern, weil Alternativen nicht genutzt werden.
(Christopher Clark: Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, DVA, 39,99 Euro, 896 Seiten, ISBN-13: 978-3421043597)
Herfried Münkler legt ebenfalls eine Gesamtdarstellung zur «Urkatastrophe» mit zahlreichen Neubewertungen vor. Zentrale These: "Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, wird uns das ganze 20. Jahrhundert ein Rätsel bleiben."
(Herfried Münkler: Der Große Krieg, Rowohlt, Berlin, 2013, 928 Seiten, 29,95 Euro, ISBN 978-3-87134-720-7)
Adam Hochschild erzählt die historischen Ereignisse auch anhand zeitgenössischer Charaktere. Herausragend ist die Beschreibung der Unfähigkeit einzelner Handelnder, die Armeen in den Krieg schicken, ohne dass teils die Grundvoraussetzungen geschaffen sind.
(Adam Hochschild: Der große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg, 2. Auflage 2013, 525 S., 26,95 Euro, ISBN 978-3-608-94695-6)
Eine Gesamtdarstellung bietet auch Oliver Janz. Er geht Fragen der Verantwortung und der Möglichkeiten der Handelnden nach. Das Buch ist dabei sehr militärhistorisch geprägt.
(Oliver Janz: 14 Der Große Krieg, Campus, 2013, 415 S., 24,99 Euro ISBN 978-3-593-39589-0)
Der Historiker Jörn Leonhard beschreibt in seiner umfassenden Studie "Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieg" den Weg in einen Krieg, an dessen Ende ein völlig neue Welt steht. Dazu beschreibt er die Erfahrungen unterschiedlichen Zeitgenossen.
(Leonhard, Jörn, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 1157 S., 38 €, ISBN 978-3-406-66191-4)
Das komplexe Ursachengeflecht, das zum Ersten Weltkrieg führte, beleuchtet der Harvard-Professor Niall Ferguson in «Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert». Er beschreibt das politische Unvermögen, den Ehrgeiz und die Fehleinschätzungen, die zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts führten.
(Ferguson, Niall, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Pantheon, 512 S., 16,99 €, ISBN 978-3-570-55200-1)
Der Historiker Gerd Krumeich gibt in seinem schnellen Überblick "Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen" kurze prägnante Antworten über verschiedene Themenfelder wie die Schuldfrage, die Waffentechnik, aber auch den Keim zum Aufstieg des Nationalsozialismus.
(Gerd Krumeich: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, Verlag C.H.Beck, München, 155 S., 10,95 €, ISBN 978-3-406-65941-6)
An Hand von fünf Zeitgenossen erläutert der Historiker Tillmann Bendikowski, dass es im August 1914 keineswegs eine allgemeine Kriegsbegeisterung in Deutschland gab. An ihrem Beispiel beschreibt er die Gefühlswelten in den Wochen vor dem Kriegsausbruch.
(Tillmann Bendikowski, Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst - wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, C.Bertelsmann, 464 S., 19,99 €, ISBN: 978-3-570-10122-3)
Den Ablauf der Schlacht von Verdun 1916 beschreibt der Historiker Olaf Jessen in «Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts». Neben Plänen der Entscheidungsträger beschreibt er auch das Leid der Soldaten und die Konsequenzen der bis dato größten Materialschlacht der Geschichte.
(Jessen, Olaf, Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, C.H. Beck, 496 S., 24,95 €, ISBN 978-3-406-65826-6)
Yury und Sonya Winterberg beschreiben in "Kleine Hände im Großen Krieg" die Schicksale von Kindern im Krieg. Sie zeichnen nach, wie Hurrapatriotismus Ernüchterung weicht, der Krieg unbeschwerte Kindheit zerstörte und den Rest des Lebens prägte.
(Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg. Aufbau Verlag, Berlin, 368 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-351-03564-8)
Die diplomatischen Verwicklungen im Juli 1914 zeichnet der amerikanische Historiker Sean McMeekin nach. In seinem Buch «Juli 1914. Der Countdown in den Krieg» erstellt er in einer Chronologie ein Stimmungsbild anhand von Depeschen, Protokollen und Schriftwechseln. (McMeekin, Sean, Juli 1914. Der Countdown in den Krieg, Europaverlag, 560 S., 29,99 €, ISBN 978-3-944305-48-6)
Anhand von Fotos erzählt Guido Knopp in zwei- bis vierseitigen Kapiteln über den Alltag an der Front und in der Heimat. Das Buch ist keine Gesamtdarstellung, gewährt aber einen kurzweiligen Einblick in die Geschehnisse vor 100 Jahren.
(Guido Knopp: Der Erste Weltkrieg. Die Bilanz in Bildern, Verlag Edel Books, Hamburg, 2013, 384 S., 24,95 Euro, ISBN 978-3-8419-0241-2)
Ist es nicht vermessen, wenn der Bundespräsident glaubt, Deutschland könne in Europa die Rolle einer postnationalen Avantgarde spielen?
Die Deutschen haben aufgrund ihrer beschränkten und geteilten Souveränität nach 1949 einen viel größeren Abstand zu nationalen Deutungsmustern entwickelt als es in Frankreich, Großbritannien, Polen oder Russland der Fall war. Entsprechend selbstverständlich ist es für viele deutsche Politiker, vor allem Europa als ein Ensemble "postnationaler Nationalstaaten" zu begreifen. Manchmal unterschätzt das aber die anhaltende Bedeutung des Nationalen auch in der Gegenwart. Wir sprechen von Europa, aber wir tun es häufig in den Kategorien des Nationalstaats. Diese Ungleichzeitigkeit kann man im Osten Europas besonders gut erkennen: Für die baltischen Staaten war es besonders schwer, ausgerechnet in dem Augenblick, als sie 1989/1991 ihre nationalstaatliche Freiheit zurückbekamen, Souveränität nach Brüssel abzutreten. Anders gesagt: Der europäische Nationalstaat verändert sein Gesicht, weil er sich einerseits in den transnationalen Institutionen der Europäischen Union auflöst. Aber er bleibt andererseits, für viele Staaten und Menschen, ein entscheidender Bezugspunkt, zumal in der historischen Erinnerung.
Zur Person
Leonhard, Jahrgang 1967, ist Professor für westeuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er hat über die Geschichte des Liberalismus geforscht und mit "Die Büchse der Pandora" (C.H. Beck, 38 Euro) soeben das neue Standardwerk über den Ersten Weltkrieg vorgelegt.
Zeigt nicht das gemeinsame Erinnern an den Ersten Weltkrieg, dass wir im Sinne von Gauck transnationaler denken als früher?
Das mag auf den ersten Blick so wirken. Aber ich finde, dass das Gedenken an den Ersten Weltkrieg keinesfalls in einer Art von gemeinsamer europäischer Gedenkkultur aufgeht. Stattdessen gibt es eine Fülle national imprägnierter Gedächtnisse. In Deutschland steht das Thema Kriegsschuld im Mittelpunkt des Gedenkens. In Frankreich erinnert man sich der Opfer, der einfachen Soldaten, der Frauen und Kinder an der Heimatfront - und der Dritten Republik, die sich im Krieg behauptete und damit bewies, dass auch eine Demokratie einen langen Krieg bestehen konnte. In Großbritannien fragt man sich, ob der Erste Weltkrieg der Anfang vom Ende des Empire und insofern der falsche Krieg des 20. Jahrhunderts war. In Belgien schließlich geht es vor allem um die Gewaltverbrechen der deutschen Besatzer an der Zivilbevölkerung. Es ist wichtig, diese nationalen Unterschiede zu verstehen und sie auszuhalten, bevor man über europäisches Gedenken spricht. Wir dürfen nicht mit artifiziellen europäischen Floskeln so tun, als gäbe es keine nationalen Gedächtnisse mehr.
Sie halten nichts von offiziellen Gedenkterminen - und glauben nicht, dass sie verbindliche Bilder produzieren?
Ich möchte vor allem daran erinnern, dass das Spektrum von Erinnerungen sehr breit ist. Symbolische Gesten prägen unsere Bildgedächtnisse, aber darin gehen Erinnerungen nicht auf. Gauck und der französische Staatspräsident Francois Hollande werden Anfang August wie 1962 im Vorfeld der Elyssée-Verträge Adenauer und de Gaulle in Reims sowie 1984 Kohl und Mitterand in Verdun eindrucksvolle Bilder eines gemeinsamen deutsch-französischen Gedenkens vermitteln. Aber es gibt auch andere, spezifisch national bestimmte Gedenkmomente, etwas wenn man in Frankreich im September an den Ausgang der für sie erfolgreichen Marne-Schlacht erinnern wird. Es gibt traumatische Momente, die so sensitiv sind, dass man sich ihrer nicht von vornherein gemeinsam erinnern kann. Man muss diese Unterschiede begreifen und aushalten.