Historiker Jörn Leonhard "Geschichte wiederholt sich nicht"

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Putin fordert Prinzip Kerneuropa heraus

Bezweifeln Sie etwa, dass die europäische Integration eine Erfolgsgeschichte ist? 

Keinesfalls. Dass der Konflikt zwischen Deutschland und seinen Nachbarn, dieser Katarakt von Krieg und Gewalt seit der Frühen Neuzeit, in eine Geschichte der Kooperation verwandelt werden konnte, ist eine große Errungenschaft. Das Problem ist, dass man daraus eine Art europäische Meistererzählung gemacht und geglaubt hat, dass dieses Modell auch in anderen Konflikträumen wirken kann. Aber an den Peripherien Kerneuropas wird es nicht erst seit heute in Frage gestellt. Die Explosion ethnischer Gewalt in Jugoslawien in den 1990er Jahren war dafür ein früher Beleg. In der Zerfallszone der alten drei Imperien - des russischen Zarenreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches - können wir bis heute beobachten, dass sich vielerorts keine stabile Staatlichkeit entwickelt hat, dass vielmehr der Kampf um Nations- und Staatsbildungen das europäische Meisternarrativ herausfordern. Hier kommen die Erbschaften des Ersten Weltkriegs wie Bojen immer wieder an die Oberfläche.

Und wir fallen förmlich aus der Zeit und verstehen unser Weltbild nicht mehr, wenn wir mit Verhaltensweisen konfrontiert werden, die wir für überwunden hielten?  

Ich gebe ihnen ein sehr aktuelles Beispiel. Vor wenigen Wochen haben die ISIS-Kämpfer an der syrisch-irakischen Grenze große Schilder aufgestellt: Hier endet das Sykes-Picot-Abkommen. Es ist das Abkommen, in dem Briten und Franzosen 1916 ihre kolonial gedachten Einflusssphären aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches abgesteckt haben. Das Gebiet des heutigen Syrien fiel damals an Frankreich, das des Irak an Großbritannien. Was ich damit sagen will: In Europa sind Sykes und Picot vergessen. Für die ISIS-Kämpfer aber ist das ein ganz präsentes Ereignis, aus dem sie jederzeit politisches Kapital schlagen können.  

In Russland wiederum ist es Putin, der das Prinzip Kerneuropa herausfordert und den Nationalismus ganz unverblümt zurück auf die politische Tagesordnung bringt.  

Von Russland lernen wir in diesen Wochen vor allen Dingen, dass man mit Geschichtspolitik konkrete Politik machen kann. Wenn Russlands Staatspräsident Putin argumentiert, in Kiew sei das russische Imperium entstanden und in Kiew versuche der Westen, das russische Imperium zu Grabe zu tragen, dann halten wir das im Westen für eine überwundene Instrumentalisierung der Geschichte. Dabei haben viele Politiker in Westeuropa unterschätzt, dass imperiales Denken nicht mit dem Untergang des Imperiums aufhört– und die Sowjetunion war durchaus in Fortsetzung zum Zarenreich vor 1917 ein multiethnisches Imperium. Das zu verstehen, heißt nicht, Putin zu entschuldigen. Ich kann die russische Position aber ohne die imperial gedachte Nation als geschichtspolitisches Argument nicht erklären. Diese Aspekte hat man in Brüssel und im NATO-Hauptquartier völlig unterschätzt...

... und Russland stattdessen gedemütigt? 

So wird es jedenfalls nicht nur von Putin gesehen, sondern auch von vielen Intellektuellen in Russland. Die argumentieren: Wir haben dafür gesorgt, dass der Zerfall der Sowjetunion in relativ zivilisierten Formen abgelaufen ist - und was haben wir dafür bekommen? Nichts. Stattdessen ist Europa expandiert - und hat kein Verständnis gezeigt für die Phantomschmerzen des 1989/91 untergegangenen Imperiums. Das ist natürlich keine Rechtfertigung für die Annexion der Krim, aber die andere Seite zu verstehen und ihr Verhalten zu erklären heißt nicht exkulpieren.

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