Die Vorkriegszeit war nicht nur von großer ökonomischer, sondern auch von politischer Dynamik geprägt - auch das erleben wir heute.
Wir sind lange von der Vorstellung geprägt gewesen, vor 1914 habe es feste Bündnissysteme gegeben, die wie zwei Züge aufeinander zurasten. Wir wissen heute, dass das so nicht stimmt. Die politische Situation war nicht festgefahren, sondern höchst instabil. Es gab Aufsteiger und Absteiger. Es gab die begründete Hoffnung, Bündnisse zu sprengen, ihre Stabilität auszutesten. Vor allem gab es eine große Verunsicherung, was die eigenen Machtperspektiven anging. Kurzum, die Welt war in Bewegung, ohne dass die Nationalstaaten eine Vorstellung davon hatten, wohin die Dynamik führen würde. Speziell die imperial agierenden Großmächte stellten sich damals die Frage nach der Überdehnung ihrer Ressourcen.
Ein Problem, vor dem heute vor allem die USA stehen?
In den USA ist das jedenfalls das Dauerthema: Steigt Amerika ab? Steigt China auf? Haben wir noch genügend Ressourcen, um den Aufgaben einer mehr oder weniger unilateralen Weltmacht nachzukommen - und wenn nicht: Konzentrieren wir uns auf den Pazifik oder den Atlantik?
Ehrlich gesagt, haben wir eher den Eindruck, dass die Politik es gegenwärtig gar nicht mehr schafft, uns Perspektiven aufzuzeigen und uns vor Alternativen zu stellen. Dass sie nur noch dem Geschehen hinterher amtiert. Dass sie nur noch auf Krisen reagiert, sie aber nicht mehr zu steuern versteht.
Ein wichtiger Punkt. Von John F. Kennedy wissen wir, dass er während der Kuba-Krise Barbara Tuchmans „Guns of August“ gelesen hat. Es ist ein Buch über den Ersten Weltkrieg, das zeigt, dass es auch in weltpolitisch zugespitzten Situationen immer eine Vielzahl von Optionen und Wegrichtungen gibt. Für uns Historiker heißt das, dass wir auch rückblickend alle Handlungsalternativen darstellen müssen. Wir müssen dem Leser von heute gleichsam die vergangene Zukunft der Zeitgenossen von 1914 vergegenwärtigen. Nur weil wir wissen, welche der vielen Optionen schließlich zum Kriegsausbruch geführt haben, neigen wir viel zu oft dazu zu sagen: Es kam, wie es kommen musste. Gegen diesen Satz muss ich als Historiker ankämpfen.
Haben die Politiker damals die Fähigkeit verloren, in Alternativen zu denken?
Das Problem war, dass man 1914 fast nur noch mit Unterstellungen operierte. Und das hieß: Man unterstellte dem Gegner genau das, was in das eigene Szenario passte. Und was alternative Möglichkeiten hätten sein können, blendete man im Gegenzug aus. So kam es zu einer Art self fulfilling prophecy: Aus den ganz widersprüchlichen Informationen wurden nur noch diejenigen ausgewählt, die den Eindruck der einen alternativlosen Entscheidung stützten. Dadurch entwickelte sich ein Sog, dadurch verselbständigte sich eine politische und militärische Eigenlogik, die sich gewissermaßen über die Akteure hinweg setzte.
An welcher Stelle lässt sich das besonders deutlich erkennen?
An der Beschleunigung der militärischen Systemlogik Ende Juli1914, als es immer mehr um die Mobilmachungen geht, um die Angst, durch eine falsche Entscheidung in eine schlechtere Ausgangsposition als der Gegner zu kommen. Am Ende führt das dazu, dass die Ressource Vertrauen immer mehr ausgeschaltet wird. Man hört nicht mehr aufeinander, bestätigt sich nur noch die Vorteile übereinander...
... und versucht schließlich, dem Gegner zuvorzukommen.
Richtig. Und in diesem Moment siegten die Militärs, die argumentierten: Wenn wir jetzt nicht losschlagen, geraten wir ins Hintertreffen. Das gilt für Deutschland mit seiner Zweifrontenproblematik im Westen und Osten Europas, aber auch für die übrigen Akteure. Indem man in immer engeren Zeitfenstern dachte, verengte sich der Horizont der Handlungsmöglichkeiten immer mehr. Die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen, trat in den Hintergrund, ja galt als Zeichen der Schwäche.