Kann man die britische Distanz zur Europäischen Union durch bestimmte dominante historische Ereignisse erklären?
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und vor allem, wie sie gedeutet wird, ist wichtig. Als die EWG gegründet wurde, war sie in gewisser Weise eine Gemeinschaft der Verlierer. Deutschland war ohnehin Verlierer ja anfangs ein Paria. Aber auch Frankreich stand nur formal auf der Siegerseite, war im Krieg besiegt und besetzt worden, Italien hatte ursprünglich auf deutscher Seite gestanden. Die englische Erfahrung dagegen war: Wir haben alleine – zumindest 1940-41 –Hitler in die Schranken verwiesen. Die ganz andere Deutung der traumatischen Zeiten Europas im Ersten und Zweiten Weltkrieg unterscheidet Großbritannien von den meisten anderen Ländern.
Alle Länder haben unterschiedliche Erwartungen an die EU. Viele Deutsche würden ihre nationale Identität am liebsten in einer europäischen aufgehen lassen.
Dieses Gefühl ist in England natürlich besonders schwach ausgeprägt. Das gab es vor der Eurokrise vielleicht noch in Italien, weil man mit dem eigenen Staat sehr unzufrieden war. In Deutschland war und ist diese Haltung allerdings auch ambivalent: Denn dazu gehörte immer die Hoffnung oder Erwartung, dass Europa ein großes Deutschland werden würde. Wir sind eines der wenigen föderal verfassten Mitgliedsländer mit einem starken, ausgleichenden Verfassungsgericht, das ein Modell für die EU sein könnte. Die Deutschen stellten sich die EU vor allem als Rechtsgemeinschaft vor. Für die Franzosen und andere war das nicht der Fall, wie sich dann beim sorglosen Umgang mit den Maastricht-Verträgen in der Euro-Krise zeigte.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Winston Churchill forderte 1946 in seiner berühmten Züricher Rede zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa auf. Großbritannien solle aber nur deren „Freund“ und Beschützer sein, nicht Mitglied. Es habe schließlich das Commonwealth. Welche Rolle spielen das Commonwealth als Erbe des Empire und die englischsprachigen Staaten außerhalb Europas für die heutige Distanz der Briten zu Kontinentaleuropa?
Ich glaube, beim durchschnittlichen Briten ist dieser Bezug nicht mehr so wichtig. Es gibt Empire-Nostalgiker bei den Konservativen. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt für die Brexit-Befürworter. Außer bei Briten, deren Familien aus Indien, Pakistan und anderen früheren Kolonien stammen. Es gibt eine nicht geringe Zahl konservativer Politiker mit Migrationshintergrund, die scharfe Kritiker der EU sind. Eine der Führerinnen der Kampagne ist die Arbeitsministerin Priti Patel. Sie beschwert sich, dass ein illiterater Osteuropäer jederzeit einwandern könne, aber ein hochqualifizierter Inder nicht. Diese Leuten empfinden die Bindung zu den alten Heimatländern, die zum Commonwealth gehörten, als mindestens ebenso wichtig, wie die zu Europa. Sie fürchten, dass diese Verbindungen abgeschnitten werden, wenn man sich auf einen europäischen Staat einlässt.
Was ist das entscheidende Motiv der Brexit-Befürworter?
Entscheidend ist das Bestehen auf der Parlamentssouveränität. Es geht um Demokratie, um Selbstbestimmung, es geht um die Identität der Nation. Viele Briten fürchten, dass in Brüssel Mechanismen am Werk sind, die darauf hinauslaufen, die Nationalstaaten aufzuheben. Möglicherweise ist das berechtigt.