Briten gelten als nüchterne Realisten, die Politik mit kühlem Kaufmannsblick betrachten und allein zu ihrem eigenen Vorteil handeln. Nun erklären die meisten Ökonomen und die Management-Eliten, der Brexit würde der britischen Wirtschaft schaden – doch in diesem Fall scheint das ökonomische Argument nicht das entscheidende zu sein. Welche Rolle spielt die Ökonomie für Wahl-Entscheidungen der Briten generell und speziell in diesem Fall?
So völlig pragmatisch sind die Briten nun auch nicht. Sonst hätten sie nie einen Falkland-Krieg geführt, in dem es letztlich um nichts als nationale Ehre ging. Thatcher war eine der wenigen prinzipiengeleiteten Politiker der vergangenen Jahrzehnte, negativ ausgedrückt könnte man sie eine Dogmatikerin oder gar Fanatikerin nennen. Was die ökonomische Bewertung des Brexit angeht: Es gibt sehr angesehene Ökonomen wie Roger Bootle, die nicht so eindeutige Nachteile sehen. Auch der frühere Vorsitzende der britischen Handelskammer John Longworth ist für den Brexit. Die Brexit-Befürworter argumentieren gegen die Regulierungen durch Brüssel, die das Wachstum behindern. Ohne die EU, so das Argument, können wir eine rein liberale Wirtschaftspolitik machen. Das hören Sie natürlich nur bei konservativen EU-Skeptikern. Bei den EU-Skeptikern der Labour-Party nicht. Ich bin kein Ökonom, aber ich denke, die ersten Jahre nach dem Austritt wären wohl schwierig, weil man ein neues Arrangement finden muss. Aber darüber hinaus Vorhersagen zu machen, ist wohl auf seriöse Weise kaum möglich.
Der deutsche Vize-Kanzler Sigmar Gabriel und alle, die in der EU Rang und Namen haben, warnen vor dem Brexit. Macht so etwas auf einen Engländer Eindruck?
In Wirtschaftskreisen gibt man schon etwas auf Expertenmeinungen aus dem Ausland. Aber sonst eher nicht. Wenn ein deutscher Minister so etwas sagt, kann das sogar nach hinten losgehen. Dem unterstellt man deutsche Eigeninteressen. Das Bild von Deutschland in der Brexit-freundlichen konservativen Presse, etwa im Daily Telegraph, kommt mir vor, als stamme es aus dem Jahr 1915. Da sind die Deutschen immer noch die Hunnen, die sich Europa unterwerfen wollen. Obamas Parteinahme gegen den Brexit ist da was anderes, weil er nicht unmittelbar eigene Interessen vertritt. Angegriffen wurde er wegen seiner Intervention allerdings auch sehr scharf.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Den Briten geht es um die Bewahrung der nationalen Identität. Doch das Vereinigte Königreich ist selbst ein Mehr-Nationen-Staat. Die Schotten sind sehr viel EU-freundlicher als die Engländer. Wie ist das zu erklären?
Man erwartet sich in Schottland von der EU ein gewisses Gegengewicht gegen England. Aber es gibt auch stärkere historische Verbindungen Schottlands zum Kontinent. Dass schottische Recht ist stärker vom römischen Recht beeinflusst. Der schottische Calvinismus war dem kontinentaleuropäischen eng verbunden. Viele Schotten gingen im 17. Jahrhundert als Söldner nach Schweden, Dänemark oder nach Deutschland. Schotten studierten auch häufiger als Engländer an kontinentaleuropäischen Universitäten.
Übrigens: Ein neuer Anlauf zur schottischen Unabhängigkeit dürfte im Falle des Brexit sehr wahrscheinlich werden. Ein mit mir befreundeter Historiker, ein in Schottland lebender Engländer, ist zwar EU-skeptisch, aber auch aus diesem Grund gegen den Brexit. Die Bewahrung der schottisch-englischen Union könnte für viele konservative Briten den Ausschlag geben, für den Verbleib in der EU zu stimmen.
Was macht Großbritannien für die EU besonders wertvoll?
Großbritannien in der EU ist ein wichtiges Gegengewicht gegen ein Konzept, das in Europa eine Ordnung errichten will, in der der Staat die Wirtschaft lenkt, wo alles zentral geplant wird – wie es in etwa der französischen Tradition entspricht. Großbritannien – auch wenn es in den vergangenen 30 Jahren in Brüssel wenig erreicht hat – mahnt immer wieder, dass wir unsere Freiheit letztlich einer parlamentarischen Demokratie verdanken. Und dass diese nicht einfach durch die Entscheidungsmechanismen ersetzt werden kann, die in Brüssel üblich sind. Großbritannien ist ein Gegengewicht gegen die Befürworter einer immer engeren Union. Für Deutschland ist Großbritannien als EU-Mitglied natürlich auch ein möglicher Verbündeter gegen die südeuropäischen Staaten und Frankreich. Aber diesen wichtigen Beitrag kann Großbritannien natürlich nur leisten, wenn es sich nicht auf Thatchers Maxime – „I want my money back“ – beschränkt. Großbritannien müsste also eine eigene Konzeption von Europa entwickeln.
Das Problem ist der Euro als Spaltpilz. Die Eigenlogik des Euro ist, dass sich die Währungsunion immer weiter verdichtet, zu einer Art Staat wird. Die nicht dazu gehörigen Länder sind dann das fünfte Rad am Wagen. Deswegen wird auch im Falle der Ablehnung des Brexit dieselbe Frage spätestens in zehn Jahren wieder auf den Tisch kommen. Es sei denn, Großbritannien würde der Eurozone beitreten, was ich mir jedoch nicht vorstellen kann. Da ist es dann immer noch wahrscheinlicher, dass die Schuldenprobleme Griechenlands und anderer Euroländer in fünf Jahren vergessen sind. Aber wer daran glaubt, muss schon ein sehr großer Optimist sein.