Großbritannien steuert auf einen schwierigen Winter zu. Aktuellen Daten zufolge stieg der Verbraucherpreisindex im Juli auf 10,1 Prozent. Das ist nicht nur der höchste Wert in fast 40 Jahren – es ist auch der mit Abstand höchste Wert innerhalb der G7-Staaten. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Inflationsrate derzeit bei 7,5 Prozent. In Frankreich sind es 6,1 Prozent.
Eine zweistellige Inflationsrate gab es in Großbritannien in den vergangenen 70 Jahren nur drei Mal: Während des Koreakrieges in den 1950er-Jahren und nach den zwei Ölpreisschocks in den 1970er-Jahren.
Vollkommen überraschend kam dieser Preisanstieg nicht. So sagte die Bank of England schon vor Wochen voraus, dass die Inflation noch in diesem Jahr auf über 13 Prozent ansteigen könnten. Dass die Preise schon im Juli unerwartet stark in die Höhe schossen, deutet jedoch darauf hin, dass die Inflation diesen Wert übertreffen könnte. Ökonomen der US-Großbank Citi befürchten, dass die Inflationsrate Anfang des kommenden Jahres auf 18 Prozent steigen könnte. Das wäre die stärkste Teuerung seit 1976.
Daten der Statistikbehörde „Office for National Statistics“ (ONS) ist zu entnehmen, dass die Preise im Juli in neun der zwölf Kategorien gestiegen sind, aus denen die ONS den Verbraucherpreisindex berechnet. Besonders gravierend: Die Preise von Gütern innerhalb der fertigenden Industrie stiegen innerhalb eines Jahres um mehr 17 Prozent an – der höchste Anstieg in 45 Jahren. Das spricht dafür, dass es später im Jahr zu weiteren verzögerten Preisanstiegen kommen wird. Auch Dienstleistungen haben sich verteuert: Die Preise stiegen im Juli um 5,7 Prozent an. Im Juni waren es noch 5,2 Prozent.
Angesichts der Entwicklungen geraten die Bank of England und deren Chef Andrew Bailey immer stärker in die Kritik. Kritiker werfen der Zentralbank – die seit 1998 unabhängig von der Regierung operiert – vor, die Entwicklungen nach dem Ende der Lockdowns verschlafen zu haben. Unterstützer von Außenministerin Liz Truss, die Umfragen zufolge im Rennen um den Vorsitz der Tory-Partei weit vorne liegt und somit im September Premierministerin werden dürfte, deuteten in den vergangenen Tagen an, dass Truss die Unabhängigkeit der Bank of England kippen könnte.
Vordergründig betrachtet erscheint die Kritik an der Zentralbank gerechtfertigt: Schließlich lautet ihr Mandat, die Inflation bei etwa zwei Prozent zu halten. Deren Chef weist solche Vorwürfe zurück. „Ich kenne niemanden, der vernünftiger Weise sagen kann, dass er vor einem Jahr einen Krieg in der Ukraine hätte vorhersagen können“, verteidigte sich Andrew Bailey kürzlich bei einer Pressekonferenz. Zuvor hatte die Zentralbank erklärt, dass es eine Rezession gebe müsse, damit die Inflationsrate wieder sinken könne.
Eine Rezession dürfte auch unvermeidbar werden, wenn die Zentralbank wie erwartet den Leitzins von derzeit 1,75 Prozent im September weiter erhöht. Viel mehr machen kann die Bank of England ohnehin kaum. Kritiker weisen schon seit Jahren darauf hin, dass die westlichen Zentralbanken wegen ihrer jahrelangen Ultraniedrigzinspolitk seit dem Finanzcrash 2008 kaum noch über Mittel verfügen, um bei größeren Verwerfungen effektiv einschreiten zu können.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Ein wirkungsvolles Eingreifen der Regierung ist bis zum Wechsel in der Downing Street ebenfalls nicht zu erwarten. Das Parlament befindet sich derzeit in der Sommerpause. Und der amtierende Premier Boris Johnson, der nach seinem Sturz vor wenigen Wochen darauf beharrt hat, noch so lange im Amt zu bleiben, bis eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger bestimmt ist, wurde vor wenigen Tagen in Griechenland gesichtet. Offenbar ist es sein zweiter Urlaub innerhalb von zwei Wochen. Seine beiden möglichen Nachfolger haben bislang keine ernstzunehmenden Lösungsvorschläge für die Krise angeboten.
Dass die Inflation in Großbritannien schon jetzt heftiger ausfällt als in allen anderen Industrienationen, dürfte dem Brexit geschuldet sein. Denn der hat unter anderem den Handel mit der EU einbrechen lassen und trägt damit zu den steigenden Preisen bei. Adam Posen, Chef des Peterson Institute for International Economics, glaubt, dass die höhere Inflationsrate in Großbritannien zu 80 Prozent dem Brexit zuzuschreiben ist. Zahlreiche Experten sind sich zudem sicher, dass es dem Land wegen der wirtschaftlichen Einbußen, die mit dem Brexit einhergehen, schwerer fallen wird, die Folgen der drohenden Rezession zu bewältigen.
Die rapide steigenden Energiepreise wirken sich dabei besonders stark auf die Inflationsrate aus. Zwar gibt es in Großbritannien ein Preisdeckel, der regelt, wie tief die Strom- und Gasanbieter ihren Kunden in die Tasche greifen dürfen. Doch die zuständige Regulierungsbehörde Ofgem hebt diesen Höchstwert kontinuierlich an – und das offensichtlich vor allem im Interesse der Versorger. So stiegen die Ausgaben eines durchschnittlichen Haushaltes im vergangenen Oktober von rund 1200 auf 1900 Pfund im Jahr an. Prognosen zufolge könnten diese Kosten im Oktober auf über 3500 Pfund steigen und im kommenden Jahr sogar auf astronomische 5800 Pfund.
Christine Farnish, die bei Ofgem im Vorstand saß, trat vor wenigen Tagen aus Protest gegen die geplanten Preissteigerungen zurück. Die Regulierungsbehörde habe „nicht die richtige Balance zwischen den Interessen der Verbraucher und denen der Versorger getroffen“, erklärte Farnish.
Bislang hat die Regierung den Verbrauchern nur mit einigen wenigen Maßnahmen unter die Arme gegriffen. So gibt es eine Einmalzahlung an alle Haushalte in Höhe von 400 Pfund sowie weitere Zuschüsse für ärmere Haushalte und Rentner, die Heizkostenzuschüsse erhalten. Dabei tragen die explodierenden Energiepreise entscheidend zu der rapide steigenden Inflation bei.
Forscher der Universität York gehen davon aus, dass bis zum Jahreswechsel mehr als die Hälfte der britischen Haushalte in die Energiearmut gedrängt werden könnten. Der britische Gesundheitssektor warnte am Freitag wegen der rasant steigenden Lebenshaltungskosten gar vor einer drohenden „humanitären Krise“.
Aus dieser Gemengelage heraus staut sich schon jetzt spürbar zunehmender Unmut an. Schon jetzt kommt es immer häufiger zu Protesten und Streiks, denen die konservative Regierung demonstrativ aggressiv entgegentritt. In den sozialen Medien mehren sich Aufrufe zu einem Boykott von Strom- und Gasrechnungen ab Oktober.
Großbritanniens bekanntester Sparexperte Martin Lewis warnte unlängst gar vor regelrechten Unruhen. „Wir müssen die Menschen ernähren. Wir müssen sie warm halten“, sagte Lewis in einem Interview. „Wenn wir das jetzt falsch machen, dann kommen wir an den Punkt, an dem wir zivile Unruhen riskieren. Und ich glaube nicht, dass wir sehr weit davon entfernt sind.“
Dieser Artikel erschien erstmals am 20.08.2022 und wurde aktualisiert.
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