Europawahl Große Verluste bei Union und SPD, Freude bei den Grünen

Zum Abschluss der viertägigen Europawahl bestimmten die Bürger in Deutschland und 20 weitere Länder am Sonntag ihre neuen Abgeordneten für das Europäische Parlament. Quelle: dpa

Mehr als 400 Millionen Menschen in 28 Staaten waren wahlberechtigt. Eine Rekordzahl nahm dieses Recht wahr. Europaweit haben die großen Volksparteien deutlich an Stimmen verloren. In Deutschland ist der Wahlsieger grün.

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Mit einer Rekordwahlbeteiligung ist die Europawahl 2019 zu Ende gegangen. Zum Abschluss der viertägigen Abstimmung wählten neben Deutschland noch 20 weitere Länder ihre neuen Abgeordneten für das Europäische Parlament.

Deutsche Wahl

Union und SPD haben bei der Europawahl in Deutschland kräftig verloren, die Grünen setzen ihren Höhenflug fort. CDU/CSU wurden bei der Abstimmung am Sonntag trotz Verlusten erneut stärkste Kraft, die Sozialdemokraten gaben ihre Position als Nummer Zwei an die Grünen ab. Die CDU kommt nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis auf 22,6 Prozent – ein Minus von mehr als sieben Punkte. Die CSU kommt auf 6,3 Prozent. Die SPD erhält 15,8 Prozent - ein Minus von mehr als elf Punkten. Zweitstärkste Kraft werden die Grünen mit 20,5 Prozent, was einem Plus von knapp zehn Punkten entspricht. Die Die AfD vereint 11,0 Prozent der Stimmen auf sich, die FDP 5,4 Prozent und die Linkspartei 5,5 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,4 Prozent, vor fünf Jahren waren es 48,1 Prozent.

Alle Ergebnisse im Überblick finden Sie in unseren interaktiven Grafiken.

Bei der EU-Wahl stürzen Union und SPD ab. Profitieren können davon vor allem die Grünen und einige kleinere Parteien. Was aber bedeutet das Ergebnis für Politik und Wirtschaft? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
von Sven Böll

Wahl europaweit

Die Partei des CSU-Vize Manfred Weber, EVP, hat ebenso herbe Verluste erlitten wie die sozialdemokratische Parteienfamilie S+D. Erstmals haben die beiden ehemaligen Volksparteien gemeinsam keine Mehrheit mehr im EU-Parlament. Zuwächse verzeichnen hingegen die Liberalen und die Grünen, die sich wie die geschrumpften Linken als mögliche Partner anbieten. Auch rechtspopulistische Parteien verbuchten Erfolge in wichtigen EU-Ländern, doch sind sie am rechten Rand im Europaparlament isoliert und haben kaum Gestaltungsmacht.

Unter den 751 Abgeordneten des künftigen Europaparlaments wird die christdemokratische EVP nach Teilergebnissen auf 179 Sitze kommen, 37 weniger als bisher. Die Sozialdemokraten erhalten demnach 150 Mandate (minus 35). Die Liberalen liegen bei 107 Mandaten, wenn die Sitze für die Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mitgezählt werden (plus 38). Dahinter kommen die Grünen mit 70 Sitzen (plus 18). Die Linke verliert 14 Sitze und kommt auf 38.

Die bisher drei rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen kommen zusammen auf 172 Sitze, 17 mehr als bisher.

Tendenzen in den europäischen Ländern

Stark schnitt nach ersten Prognosen vor allem die rechte Lega des italienischen Innenministers Matteo Salvini ab: Hochrechnungen sahen die Lega in der Nacht zum Montag bei über 30 Prozent – ein Rekordergebnis. Salvini sprach von einem „unglaublichen Erfolg“. Bei der Europawahl 2014 hatte die Lega 6,2 Prozent geholt. „Die Wahl von heute sagt uns, dass sich die Regeln Europas ändern werden“, sagte Salvini.

Einen Erfolg fuhr die neue Brexit-Partei von Nigel Farage in Großbritannien ein, die laut Teilergebnissen mit rund 31 Prozent der Stimmen stärkste Partei wurde. In Frankreich schlug die Rechtspopulistin Marine Le Pen mit ihrer Partei Rassemblement National laut Prognosen die Partei LREM von Präsident Emmanuel Macron und forderte prompt Konsequenzen. Aber sie blieb mit 23,4 Prozent knapp hinter dem Ergebnis von 2014; damals waren es 24,9 Prozent.

Einige Rechtsparteien schnitten schwächer ab als erwartet, darunter auch die Alternative für Deutschland. Sie kam auf 11 Prozent und lag damit über den 7,1 Prozent des Jahres 2014 - aber unter dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017. Auch in Finnland und Dänemark blieben rechte Parteien hinter den Erwartungen. In Österreich verlor die FPÖ nach dem Videoskandal leicht und kam auf etwa 17,5 Prozent.

Es wird erwartet, dass sich die rechten Fraktionen neu sortieren. So könnte sich die rechtsnationale Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orban, die stark hinzu gewann, von der EVP lossagen und sich der neuen Rechtsallianz von Salvini anschließen. Laut Prognosen lag Fidesz bei 42 Prozent und damit um 14 Prozentpunkte über dem Ergebnis von 2014.

Reaktionen aus Deutschland

Die Union hat laut CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ihr Wahlziel bei der Europawahl erreicht. Man habe klar stärkste Partei in Deutschland werden und damit EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber unterstützen wollen. „Er ist unser Mann für den Präsidentenposten der Europäischen Kommission“, sagte sie. Wenn die konservative Parteienfamilie EVP wie erwartet stärkste Fraktion im Europäischen Parlament werde, stehe der Anspruch, dass Weber den Posten erhalte. Dies sei „deutsches Interesse“.

CSU-Chef Markus Söder hat die SPD und die Opposition aufgefordert, den Anspruch von Weber auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten zu unterstützen. Dies sei in deutschem Interesse, betont der bayerische Ministerpräsident. In dem bayerischen CSU-Ergebnis von knapp 40 Prozent sieht er eine „Trendumkehr“. Weber selbst forderte die anderen europäischen Parteienfamilien auf, eine gemeinsame europäische Agenda für die kommenden fünf Jahre zu beschließen. „Wir haben Stabilität versprochen“, sagt er. Weber erneuerte nach der Wahl seinen Führungsanspruch und bot den übrigen Parteien Gespräche an. Die EVP bleibe stärkste Fraktion, und zwar mit deutlichem Abstand. Dennoch sehe er das Ergebnis nicht als Sieg. „Wir erleben, wie die Mitte schrumpft“, sagte der CSU-Vizechef.

Grünen-Chef Robert Habeck führte die Zugewinne der Grünen auf deren Positionierung in der Klimapolitik zurück. „Sicherlich hat die Klimafrage zum ersten Mal in einem bundesweiten Fall so eine dominante Rolle gespielt, dass die Zögerlichkeit der großen Koalition da negativ gewirkt hat“, sagte Habeck in der ARD.

Die Ergebnisse seien für die SPD „extrem enttäuschend“, erklärte Partei-Chefin Andrea Nahles. Erstmals sei die SPD bei einer bundesweiten Wahl dritte Kraft hinter den Grünen. „Sie (die Wahlergebnisse) zeigen, dass wir noch viel zu tun haben.“ Ähnlich wie Nahles wertete auch der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Carsten Schneider, das Abschneiden der SPD als enttäuschend. „Das ist ein bitteres Ergebnis, gar keine Frage, es ist eine Wahlniederlage für uns“, sagte er in der ARD. Er vermute, dass ein Großteil der Wähler zu den Grünen gegangen sei. „Der Hauptpunkt wird das Klimaschutzthema sein, wo es uns wahrscheinlich nicht gelungen ist, neben der sozialen Frage eben auch diese Frage des Klima- und Umweltschutzes mit in den Mittelpunkt zu rücken.“ Zur Zukunft von SPD-Chefin Andrea Nahles äußerte er sich nicht.

Die AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, sieht ihre Partei als Gewinner der Europawahl. „Im EU-Ausland konnten unsere Partner ebenfalls gute Ergebnisse einfahren“, schrieb Weidel auf Twitter. „Europa wird sich drastisch ändern – und ich freue mich darauf.“ Die AfD will die Macht der EU nach den Worten von Partei-Chef Jörg Meuthen beschneiden. „Wir gehen nach Brüssel, um die EU zu reparieren und sie auf ihre Kernaufgaben zu reduzieren“, sagte Meuthen in der ARD.

Die voraussichtliche Ergebnis bei der Europawahl ist aus FDP-Sicht akzeptabel. „Wir sind heute Abend kein großer Wahlgewinner, aber wir sind ein kleiner Wahlgewinner“, sagte FDP-Chef Christian Lindner. Seine Partei könne möglicherweise zwei Millionen Stimmen bekommen haben, das sei in absoluten Zahlen eine Verdoppelung. „Da kann man sich durchaus drüber freuen.“ Das Ziel, die Zahl der bislang drei Sitze zu verdreifachen, habe die Partei nicht erreicht, räumte Lindner ein. Der Anspruch an sich selbst sei höher. Man wolle das Ergebnis in den kommenden Wochen analysieren. FDP-Spitzenkandidatin Nicola Beer sagte kurz nach Schließung der Wahllokale: „Die aktuellen Prognosen können uns noch nicht zufrieden stellen.“ Wichtig sei, dass die de-facto große Koalition aus EVP und Sozialdemokraten beendet sei. „Ich glaube, wir können dieses Europa besser machen.“

Aus der Wirtschaft kommen warnende Stimmen vor einer Regierung aus SPD, Grünen und Linkspartei in Bremen. „Bei Rot-Rot-Grün droht die Gefahr, dass die bisher überwiegend verantwortliche Finanzpolitik wieder aufgeweicht wird“, sagte der Landesvorsitzende des Verbandes „Die Familienunternehmer, Peter Bollhagen. „Neue Schulden aber kann sich Bremen als Bundesland mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung nicht leisten. Für kommende Generationen wäre der Schuldenberg nicht mehr beherrschbar.“

Sehr hohe Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl war mit 50,5 Prozent so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Dies teilte der Sprecher des Europäischen Parlaments, Jaume Duch Guillot, in der Nacht zum Montag mit. Demnach lag die Beteiligung um acht Prozentpunkte höher als bei der letzten Wahl 2014. Die jüngsten Daten, die auch Großbritannien umfassten, „zeigen, dass den europäischen Bürger bewusst ist, dass die Europäische Union ein Teil ihres Alltagslebens und ihrer Zukunft ist“, erklärte Guillot.

Die Wahlbeteiligung lag in Deutschland bei 61,4 Prozent – ein deutlicher Sprung nach oben: vor fünf Jahren waren es 48,1 Prozent. Diesmal waren in Deutschland 64,8 Millionen Menschen wahlberechtigt.

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