Impfpflicht und Tests nur für Selbstzahler So ist die „Coronahölle“ Bergamo aus der Krise gekommen

Carabinieri, Militär und medizinisches Personal verladen einen Sarg von Tausenden. In Bergamo starben innerhalb von nur drei Wochen über 4000 Menschen an dem Coronavirus. Quelle: imago images

„Wie im Krieg“, so erinnern sich Bürger aus Bergamo noch heute an den Pandemiebeginn. Die Erfahrung hat Italien geprägt, das auf radikalere Corona-Maßnahmen als Deutschland setzt.

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Bergamo, am 18. März 2020. Verstörende, Angst erregende Fernseh-Bilder erschüttern ganz Europa: Armee-Lastwagen fahren durch die Nacht, beladen mit Särgen. Viele Lkw, mit vielen Särgen.

Was, um Himmels Willen, ist los in Norditalien?

„Wir dachten, wir sind im Krieg“, sagt später ein leitender Arzt im größten Krankenhaus von Bergamo. Die Säle der 1000-Betten-Klinik waren überfüllt, das Personal völlig überarbeitet und verzweifelt.

Täglich kamen neue Patienten, denen es ständig schlechter ging und von denen viele starben. Die Krematorien waren im ganzen Umland längst ausgebucht.

Binnen drei Wochen starben 4500 Menschen

Militär-Lkw transportierten die Tausenden Covid-Toten heraus aus Bergamo - etwa wie hier nach Bologna. Quelle: imago images

Viele Särge wurden in Kirchen zwischengelagert, etwa in der von Don Marco Carminati, der auf jeden Sarg eine Kerze und eine Blume setzte, um den Toten wenigstens etwas an menschlicher Würde zu lassen. „Einmal waren es 76 Särge“, erzählte der Pfarrer einem Radioreporter. Alle drei Tage seien Soldaten in weißen Schutzanzügen gekommen und hätten die Särge auf Lkw verladen. Binnen drei Wochen starben 4500 Menschen.

Bis dahin waren die Viren, die vermutlich erstmals im November 2019 in der chinesischen Millionenstadt Wuhan aufgetaucht waren, als eher ungefährlich eingestuft worden. Auch als ein unbekanntes Virus im Dezember 2019 in Bergamo aktiv wurde, machte sich anfangs niemand Sorgen über die 110 Fälle. Das sollte sich bald ändern. Jedenfalls in Italien. In Deutschland dauerte es noch etwas länger.

Deutschland: Gefahr „gering bis mäßig“

Ein Mitglied der Armee desinfiziert die Särge, die in einer Kirche von Bergamo aufgereiht sind, bevor sie mit Lastwagen in größere Städte abtransportiert werden. Quelle: imago images

In Deutschland schätzte das Robert Koch-Institut (RKI) die Gefahr durch das neue Virus noch am 28. Februar 2020 als „gering bis mäßig“ ein. Ratschläge ans Volk: Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken seien im Alltagsleben eher nicht sinnvoll. Es handele sich schließlich nur um eine „starke bis sehr starke Grippewelle“. Und die sei in 85 Prozent aller Fälle nach 14 Tagen überstanden.

Erst im März 2020 änderte sich die deutsche Linie. Nach 1,3 Millionen Infizierten und knapp 22.000 Todesfällen stufte das RKI das Risiko des inzwischen SARS-CoV-2 benannten Coronavirus als „sehr hoch“ ein. Doch die Empfehlungen fürs Volk blieben auch da eher mager: Nun sollten Abstands- und Hygieneregeln zwar konsequent eingehalten, aber Mund- und Nasen-Bedeckung nur getragen werden, „wo geboten“.

Italien ging, aufgeschreckt durch das Drama in Bergamo, schneller und entschlossener in die Offensive. Schon am 23. Februar 2020 verhängte die Regierung in Rom eine Quarantäne über 50.000 Bewohner von elf norditalienischen Gemeinden mit hohem Covid-Befall. Schulen, Museen, Geschäfte, so gut wie alles wurde geschlossen. Anfang März kamen weitere „Rote Zonen“ im Norden des Landes dazu.

Kontrollen auf dem Heimweg

Das reiche alles nicht, befand der römische Regierungschef Giuseppe Conte am 9. März 2020 und erklärte ganz Italien zur „Zona rossa“. Jeder, dürfe ab 11. März seine Wohnung nur verlassen, wenn er zur Arbeit, zum Arzt oder zum Einkaufen wolle. Wer vor die Haustür treten wollte, musste ein Formular mitführen, auf dem Grund, Ziel und Dauer des Ausgangs vermerkt waren. Bei Kontrollen auf dem Heimweg musste das Attest des Arztes oder der Kassenbeleg des Supermarktes vorgezeigt werden. Und Kontrollen gab es überall.

Polizisten kontrollieren während des ersten Tages des Lockdowns 2020 in Bergamo die Papiere eines Autofahrers Quelle: imago images

Das Gassi-Gehen mit dem Hund wurde begrenzt, der Fußweg zum Supermarkt durfte nicht zum Spaziergang ausarten. Die Strafen waren deftig. So wurde ein Rentner zu 400 Euro Buße verurteilt, weil er am Strand statt auf der Straße zum Einkauf ging. Denn der Weg am Meer war vier Meter weiter, wie Polizisten penibel abgemessen hatten.

Cafés, Restaurants, Turnhallen, Schwimmbäder und alles, was ansonsten Menschen anlocken könnte, waren geschlossen. Beerdigungen wurden genauso ausgesetzt wie Sport-Events und Führerschein-Prüfungen. In vielen Branchen mussten die Betriebe schließen.

Ein Arzt in einer Reihe mit Superhelden: Ein Werk der italienischen Illustratorin Chiara Bigatti ist im November 2021 auf einer Reklametafel in Bergamo zu sehen. Quelle: imago images

Als im Sommer die Zahlen besser wurden, weniger Menschen erkrankten und noch weniger starben, durften Kinos und Geschäfte, Restaurants und Kirchen und viele Betriebe wieder öffnen.

Lockdown für quasi alle

Im Herbst verfeinerte Rom die Anti-Covid-Politik: Nicht das ganze Land, die einzelnen Regionen sollten fortan entsprechend ihrer Zahlen in rote, orange, gelbe und weiße Zonen eingestuft werden. Rot, für viele Infektionen, bedeutet: Lockdown für quasi alle. Orange signalisiert eine nicht ganz so brisante Lage, gelb ein eher minimales Risiko und die „weiße Zone“ meldet eine praktisch Covid-freie Region.

Als Mario Draghi, der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, im Februar 2021 das politische Steuer in Rom übernahm, baute er die Corona-Politik seines Vorgängers weiter aus.

Tests muss jeder selbst zahlen

Das neue, sehr scharfe Schwert im italienischen Kampf gegen den ansteckenden Covid-Killer ist seit dem 15. Oktober die 3G-Regel: Geimpft, genesen oder frisch getestet. Dabei hilft „Test statt Impfung“ den meisten Menschen nicht wirklich weiter – denn sie ist zu teuer.

Die Tests muss in Italien jeder selbst zahlen, das macht bei den nötigen drei Tests in der Woche pro Person etwa 45 Euro, beim gleichgesinnten Ehepaar 90 Euro, macht gemeinsam: 360 Euro im Monat.

So bleiben faktisch das „Genesen-Testat“, das freilich nicht viele haben, und der Impfnachweis, heute zeitgemäß „Greenpass“ getauft, um in Italien fröhlich zu leben. Wer den „Greenpass“ – auf Papier oder auf dem Handy – nicht vorzeigen kann, sollte lieber gleich zu Hause bleiben. Er kommt in Italien kaum noch in ein Restaurant, in eine Sporthalle, eine Arztpraxis oder ein Rock-Konzert. Und er darf dort überall auch nicht arbeiten. Wenn überhaupt noch irgendwo.

Der erste Tag mit dem Greenpass in Italien: Junge Frauen scannen den Code. Ohne ihn gibt es keinen Zugang. Quelle: imago images

Denn viele Jobs, zu denen die Begegnung mit anderen Menschen gehört, sind gebunden an den „Greenpass“. Wer den nicht hat, muss leider gehen. 1656 Ärzte verloren so in jüngster Zeit ihren Arbeitsplatz. Weitere 500 wählten dann doch lieber die Impfung. Diese Alternative droht aktuell auch Tausenden von Krankenschwestern: Impfen oder gehen.

Mit dem Greenpass stiegen Italiens Impf-Zahlen noch einmal deutlich an. Während im sonst so braven Deutschland derzeit nicht einmal 68 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, sind es im sonst so rebellischen Italien knapp 73 Prozent. Und, ganz klar, je mehr Impfungen es gibt, desto weniger Ansteckungen sind wahrscheinlich. Das gilt wohl auch für die jetzt anbrandende vierte Welle.

Italien zählte am 18. November 10.638 Neuinfizierte, in Deutschland waren es am selben Tag mit 65.371 gemeldeten Corona-Infizierten fast sechs Mal so viel.

Bergamos Wirtschaft um sieben Jahre zurückgeworfen 



Die hübsche kleine Provinzhauptstadt zahlte einen hohen Preis. Die regionale Wirtschaft wurde laut dem Industrieverband Confindustria „um sieben Jahre zurückgeworfen“. Viele Betriebe waren auch durch die üppigen Finanzhilfen aus Rom nicht zu retten. Aber jetzt spricht man vor Ort wieder von „Signalen der Erholung“.

Doch viele Bürger Bergamos, sagen Psychologen und Therapeuten, litten noch heute unter einem „kollektiven Trauma“. Selbst Menschen, die gar nicht infiziert waren und keine infizierten Angehörige hatten, haben heute noch Angst, das Haus zu verlassen.

Mehr zum Thema: So verlief der erste Lockdown in Deutschland.

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