Interview mit Jaco van Dormael "Wenn wir nicht mehr lachen, haben die Terroristen gewonnen"

Der Brüsseler Filmregisseur Jaco van Dormael ("Das brandneue Testament") über die Sterblichkeit und das Glück im Hier und Jetzt.

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So gedenkt die Welt der Opfer von Brüssel
Eiffelturm in Paris in den belgischen Farben Quelle: REUTERS
Berlin: In der deutschen Hauptstadt wird am Abend der Terroranschläge das Brandenburger Tor in den Farben der belgischen Trikolore angestrahlt. Quelle: dpa
Gerichtsgebäude von Lyon Quelle: REUTERS
RomDer weltberühmte Trevi-Brunnen, eines der größten Wahrzeichen von Italiens Hauptstadt Rom, wurde in Schwarz-Gelb-Rot getaucht. Quelle: REUTERS
Neptun-Brunnen auf der Piazza Signoria in Florenz Quelle: dpa
PolenIn Warschau ließen die Polen den Palast der Kultur und Wissenschaft in den Farben der belgischen Tricolore anstrahlen. „Die Tragödie, die sich heute in Brüssel ereignete, zeigt, dass wir in einer Welt leben, in der eigentlich alle Werte, die wir als Fundament für den Bau einer Gemeinschaft erachten, anfangen, in Trümmern zu liegen“, sagte polnische Regierungschefin Beata Szydlo. Quelle: dpa
Belgische Botschaft in Prag Quelle: REUTERS

Monsieur van Dormael, bei den Terroranschlägen in Brüssel starben vergangenen Dienstag Duzende Menschen, hunderte wurden verletzt. Darf man in Zeiten des Terrors noch lachen?

Wenn wir nicht mehr lachen, haben die Terroristen gewonnen. Meinen Film „Das brandneue Testament“ haben wir geschnitten, als in Paris im Januar 2015 das Attentat auf die Satirezeitung Charlie Hebdo stattfand. Wir haben uns gefragt, ob wir mit dem Film weiter machen können. Und dann haben wir haben beschlossen, dass wir weiterhin mit allen über alles lachen dürfen.

In Ihrem Film „Das brandneue Testament“ erhalten alle Menschen den Todeszeitpunkt per SMS. Aus heutiger Sicht wirkt das sehr makaber. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Ein Lehrer von mir sagte, die Qualität eines Drehbuch lässt sich daran ablesen, wie abgewetzt die Hose des Autoren vom Sitzen ist.

Zur Person

Man muss schreiben, umschreiben, sitzen bleiben. Ich wollte einen Film machen, in dem Gott eine Frau und eine Tochter hat. Als Kind habe ich mich darüber gewundert, dass in der Bibel über Hunderte von Seiten Frauen nicht zu Wort kommen. In meinem Film ärgert die Tochter ihren Vater, indem sie das am besten gehütete Geheimnis preisgibt: Unseren Todestag. Der Akt der Rebellion des Mädchens führt zum Thema des Films: Was machen wir, bevor wir sterben?

In Ihrem Film machen die Menschen nicht viel, bevor sie die SMS bekommen…

…meine Figuren haben ihr Leben in kleine Kisten gepackt, und halten den Inhalt für ihr ganzes Leben. Sie halten sich im Wartesaal des Glücks auf, ohne das Glück je kennenzulernen.

Zwingt der Tod uns, dem Leben einen Sinn zu geben, wie das der Philosoph Martin Heidegger postuliert hat?

Wir alle kennen die Situation, in der ein Angehöriger krank wird, und auf einmal jeder Augenblick wertvoll ist. Ohne den Tod vor Augen verschieben wir das Glück auf morgen und machen vielleicht in drei Jahren das, worauf wir wirklich Lust haben. 

Denken Sie denn oft an Ihre eigene Sterblichkeit?

Ich weiß, dass es mir gut tut, daran zu denken, ich treffe dann radikalere Entscheidungen. Aber die meiste Zeit lebe ich so, als ob ich 250 Jahre alt werden würde. 

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Ich habe da keine Antwort, tendiere aber eher zu einem Nein. Ich glaube, das Paradies ist im Hier und Jetzt.

Seit dem vergangenen Herbst kennt die Welt den Brüsseler Stadtteil Molenbeek, meist versehen mit dem Zusatz Problemviertel…

Ja, das ist schon komisch, selbst in den USA wurde ich darauf angesprochen. Viele Szenen im Film wurden in Molenbeek gedreht, ich habe dort geprobt. Dass sich Menschen in Brüssel verstecken, ist übrigens nichts Neues. Victor Hugo, kam nach Brüssel, um sich hier zu verstecken, Karl Marx hat das Kapital im Stadtteil Ixelles geschrieben. 

In der Soziologie gibt es die Terror-Management-Theorie, die besagt, dass wir weniger tolerant werden, wenn mit dem Tod konfrontiert und dass wir uns hinter kulturellen Normen verschanzen. Passiert das gerade?

Wir erleben gerade, wie Religion verwendet wird, um Macht auszuüben und Angst zu sähen. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat einmal gesagt, dass sowohl die Religion als auch das Kino versuchen, den Menschen zu suggerieren, das Leben hätte einen Sinn. Es wird eine Illusion hergestellt. In der Religion wird das Erzählen von Geschichten benützt, um Macht auszuüben. 

Und wozu erzählen Sie Geschichten?

Mein Film sagt: Habt keine Angst. Der Gott im Film hat Autorität, man muss gehorchen, und wenn man es nicht macht, dann wird man bestraft. Er stellt eine Art von männlicher Autorität dar. Die Tochter Gottes sagt dagegen, es gibt keine Gesetze und keine Strafen. Macht, worauf ihr Lust habt. 

Das klingt wie ein Aufruf zur Anarchie. Ist das Absicht? 

Ich versuche, Filme zu machen, die lauter Fragen stellen, aber keine Antworten geben. Filme, die eine Wahrnehmung des Lebens zeigen, aber keine Botschaft. Ich halte es für einen Fehler, Geschichten auf nur einen Aspekt zu reduzieren. Das gilt ja auch, wenn wir die Geschichte unseres Lebens erzählen. Wir sagen dann: Mein Leben ist so – und nicht anders. In Wirklichkeit wind wir nicht eine Person, sondern hunderttausende mit vielen Möglichkeiten. Ich wundere mich auch immer, wie Journalisten Filme kategorisieren, und „Das brandneue Testament zur Komödie“ erklären. Als ich mit meinem Ko-Autor das Drehbuch schrieb, hatten wir kein bestimmtes Genre vor Augen. Man zeugt ja auch keinen Ingenieur, sondern ein Baby, das dann vielleicht mal Ingenieur wird.

Finden Sie es einfacher, Ihre Art von Filmen in Belgien zu machen, weit weg von der Traumfabrik Hollywood oder auch der französischen Filmindustrie?

Wenn man in Belgien einen Film macht, weiß man nicht einmal, ob ihn jemand ansehen wird. Wir Belgier sind Außenseiter im Filmgeschäft, haben bei weitem nicht dieselben Mittel wie in Ländern mit Filmindustrie. Dafür haben wir mehr Freiheit. 

Können Sie einen schrägeren Humor einsetzen, weil Sie keinen Erwartungen entsprechen müssen?

Ich wollte diesen Film unbedingt selbst produzieren, damit mir niemand verbietet, dass Gott im Film Bier trinkt und Zigaretten raucht.

Große Terroranschläge in Europa

Ein Produzent hätte mir womöglich verboten, dass Gott flucht und seine Tochter schlägt. Ich wollte über den Final Cut entscheiden, weil ich wusste, dass wir an einem Tabu rühren. In Frankreich haben alle Fernsehsender abgewunken, weil sie Bedenken gegen das Thema hatten. Kein Film für Primetime, hieß es, das würde schockieren. 

Aber die Lust an der Provokation gehört für Sie dazu?

Ich wollte nicht schockieren, ich wollte es aber auch nicht bewusst vermeiden, zu schockieren. Ich komme aus einem Milieu, das so gar nicht religiös ist. Interessanterweise hat mein Film in Belgien eine Diskussion über die Rolle der Frau in der Kirche ausgelöst. 

Wie kommt der Film in anderen Ländern an?

Er hatte in Deutschland 450.000 Zuschauer, in Italien 250.000 und in Korea 200.000. In Italien gab es erst Vorbehalte, weil die Menschen dachten, es gehe um Gotteslästerung. Dann haben sie aber gemerkt, dass es um Macht in der Gesellschaft und der Familie ging. Im buddhistischen Korea kam der Film wegen der Rolle der Frau an. Dort dominiert der Mann traditionell, die Frau schweigt. 

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich fühle mich wie nach einer Ozeanüberfahrt im Ruderboot.

Ich möchte nicht gleich die nächste Reise antreten. Es gibt ja nur wenige, die so verrückt sind wie ich und gleichzeitig Drehbuch schreiben, Regie führen und produzieren. Karl Valentin hat ja so treffend gesagt: Kunst ist schön, aber macht viel Arbeit. 

Stachelt das Ihren künstlerischen Ehrgeiz an, wenn Sie wissen, dass Ihnen mit fortschreitendem Alter weniger Jahre bleiben?

Nein, ich arbeite ja nicht an einer Filmographie. Ich merke jedoch, dass jeder Film Elemente des Vorgängers enthält. Und dabei wollte ich jedes Mal etwas völlig anderes machen.

Eines Ihrer Lieblingsthemen sind Außenseiter. Wieso?

Wir haben doch alle ein Handicap, wir sind alle seltsam. Niemand ist wie alle anderen.

Gibt es für Sie einen typisch belgischen Humor?

Wir Belgier machen uns über uns selbst lustig, bevor es ein anderer tut.

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