Italiens Süden vor der Wahl Die Abgehängten von Kalabrien

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Ein System des Ignorierens und Wegschauens

San Ferdinando ist nur ein Beispiel für das Elend: Laut Ärzte ohne Grenzen leben rund 10.000 Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge in Italien unter solch unmenschlichen Bedingungen. Ende Januar ist ein Teil des Slums abgebrannt, eine Frau kam ums Leben. Doch die Migranten sind immer noch da. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International befürchten unter anderem Vergiftungen durch verseuchten Boden.

Andrea Tripodi ist der Bürgermeister dieses kaputten Ortes. Er ist seit eineinhalb Jahren im Amt, nachdem die Verwaltung der Kommune wegen Mafiaunterwanderung aufgelöst wurde. Tripodi hat neben dem Slum eine Zeltstadt errichten lassen, wo die Migranten wenigstens Wasser haben und ein paar Polizisten nach dem Rechten schauen. Essen oder eine Kochstelle gibt es allerdings nicht - nur einen Automaten, in dem man Schokoriegel ziehen kann.

„Es fehlt eine klare Politik, es fehlt Geld, um das Problem in den Griff zu bekommen. Es ist eine enorme Zahl für eine kleine Gemeinde wie unsere. Es ist eine Zahl, die zum Erdbeben geworden ist“, sagt Tripodi. Rund 4500 Menschen leben in San Ferdinando - und etwa 2500 Migranten, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Ein explosiver Cocktail.

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Die meisten der Migranten in San Ferdinando und Umgebung sind so genannte Wirtschaftsflüchtlinge, haben also kein Anrecht auf Asyl. Eine internationale Krise spielt sich hier ab. Aber weder hochrangige EU-Politiker, noch italienische Spitzenpolitiker lassen sich hier sehen. Der Innenminister, der für das Thema Migration hauptamtlich zuständig ist, sei noch nie hier gewesen, so der Bürgermeister. Und das obwohl Marco Minniti aus der nicht weit entfernten Stadt Reggio Calabria stammt. Der Minister tritt auch nicht in seiner Heimatstadt als Wahlkandidat an - vermutlich weiß er, dass er hier sowieso keinen Blumenstrauß gewinnen würde.

Es ist ein System des Ignorierens, des Wegschauens. Aber auch eines des gegenseitigen Ausnutzens: Die Migranten arbeiten für einen Hungerlohn auf den Feldern der Bauern in der Region. Im Hintergrund zieht die Mafia die Strippen. Im Winter pflücken die Einwanderer Orangen, Mandarinen, Zitronen, die dann in Norditalien und im Ausland verkauft werden. „Im Sommer wandern sie weiter nach Apulien und Kampanien für die Tomatenernte“, so der Bürgermeister.

Sie sind die modernen Sklaven, Opfer mafiöser Strukturen in der Landwirtschaft. Ausgenützt von den anderen Verlierern der Globalisierung, den kalabrischen Bauern. Denn mit dem Orangenanbau verdient man mittlerweile auch nichts mehr. Längst kommen billigere Zitrusfrüchte aus Tunesien oder Brasilien in Europa an, wie der Bürgermeister sagt. Und zwar absurderweise genau in dem riesigen Containerhafen, der vor einiger Zeit hier in San Ferdinando gebaut wurde - und der vor allem der 'Ndrangheta als Drehkreuz für ihren weltweiten Drogenhandel dient.

Europa, Rom, Wahlen? All das spielt in San Ferdinando eine Nebenrolle. Die Menschen interessieren sich nicht für Europa, sondern dafür, ob es nachts Beleuchtung auf der Straße gibt, ob der Müll endlich weggeräumt wird und ob man auch morgen noch Geld für den Einkauf hat. Die Einwohner, die die Schnauze voll haben von der Misere, wandern in Richtung Norden ab, setzen sich in Busse und Züge Richtung Mailand, Genua, Turin oder eben nach Deutschland. Nur die Migranten, die nicht weiterkönnen, bleiben bis auf weiteres in San Ferdinando und Crotone. Wählen dürfen sie am 4. März nicht.

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