Keine weiteren Abkommen? Schweiz lässt Rahmenabkommen mit der EU platzen

Da war die Welt noch in Ordnung: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin im April. Quelle: dpa

Zahlreiche Verträge regeln die Zusammenarbeit der EU mit der Schweiz. Eine engere Umarmung wollen die Eidgenossen aber nicht. Nach jahrelangen Verhandlungen ziehen sie nun einen Schlussstrich.

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Die Schweiz will keine engere Bindung an die Europäische Union. Nach sieben Jahren hat sie Verhandlungen über einen geplanten Rahmenvertrag mit der EU einseitig beendet. Es habe keine Einigung über entscheidende Punkte gegeben, sagte der Schweizer Präsident Guy Parmelin am Mittwoch in Bern. Die EU bedauerte die Entscheidung.

Er habe EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen persönlich per Telefon informieren wollen, aber von der Leyen habe das Gesprächsangebot nicht angenommen, sagte Parmelin. In seinem Brief an von der Leyen schrieb Parmelin, es sei der Wunsch der Schweiz, die Beziehungen zur EU „zu pflegen und zu vertiefen“.

Im Verhältnis der Schweiz zur EU ändert sich zunächst nichts. EU-Bürger können sich weiter in der Schweiz niederlassen und die EU hat weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt. Allerdings sprach die EU-Kommission in Brüssel von weitreichenden Konsequenzen. So werde die EU ab sofort nicht mehr automatisch schweizerische Zertifizierungen für Medizinprodukte anerkennen. Dann müssen Hersteller, die in die EU exportieren, eine Zertifizierung in der EU beantragen. Zudem sollen zum Beispiel die Verhandlungen über einen Zutritt der Schweiz zum europäischen Strommarkt und über ein Gesundheitsabkommen mit der EU nicht fortgeführt werden.

Über das Rahmenabkommen wurde seit 2014 verhandelt. Es war als eine Art Leitlinie für die bestehenden Verträge gedacht. Damit sollten etwa automatische Anpassungen bei aktualisierten EU-Richtlinien geregelt werden. Die Schweiz monierte aber neue Regeln in dem Vertrag, gegen die Gewerkschaften, Staatsrechtler und die rechte Partei SVP Sturm liefen. Dabei ging es unter anderem um Regeln zu Staatshilfen, Maßnahmen zum Schutz der hohen Schweizer Löhne und den Zugang von EU-Bürgern zu Schweizer Sozialkassen.

„Die Schweiz bleibt zuverlässige Partnerin der Europäischen Union“, versicherte der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis. „Die Schweiz ist Teil der europäischen Wertegemeinschaft.“ Die Regierung nehme Nachteile für die Schweiz nach dieser Entscheidung in Kauf. Sie werde einen „politischen Dialog“ mit der EU suchen, um die Zusammenarbeit weiterzuentwickeln. Die Schweiz werde in bestimmten Bereichen nun eigenständig Anpassungen an EU-Recht vornehmen, um Handelshürden zu vermeiden, sagte Justizministerin Karin Keller-Suter. „Wir fallen nicht in ein schwarzes Loch“, sagt sie.

In Umfragen waren Schweizerinnen und Schweizern meist mehrheitlich für ein Rahmenabkommen. Die stärkste Partei, die SVP mit einem Wähleranteil von gut 25 Prozent, war aber vehement dagegen. Die sozialdemokratische Schweizer Abgeordnete Mattea Meyer gab auf Twitter ihrer Enttäuschung kund. „Nach heute ist mehr denn je klar: Es braucht nicht weniger Europa, es braucht mehr Europa – ein Europa für die Menschen!“

Die Handelskammer Deutschland-Schweiz bedauerte die Entscheidung. „Für die Unternehmen in der Schweiz, aber auch für jene in der EU, droht der Marktzugang deutlich aufwändiger und teurer zu werden“, teilte sie mit. So müssten womöglich Produkte wieder für die jeweiligen Märkte zertifiziert werden. Es könne auch Störungen in Lieferketten geben, wenn sich der Export von EU-Produkten in die Schweiz womöglich nicht mehr lohne. Es dürfe nicht passieren, dass „die über Jahre mühsam erreichten Liberalisierungsschritte beim Marktzugang wieder rückgängig gemacht werden und zusätzliche neue Probleme im Wirtschaftsverkehr entstehen“, so die Kammer.

Der Vorsitzende der deutsch-schweizerischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Felix Schreiner, sprach von einem „großen Rückschritt für die Beziehungen zwischen der EU und unseren schweizerischen Nachbarn“. Es sei schade, dass diese große Chance für ein noch engeres Miteinander nicht genutzt werde. „Die Verlierer sitzen nicht in Bern oder in Brüssel: Es sind diejenigen, die in unserer Grenzregion von diesem Abkommen profitiert hätten“, betonte der CDU-Abgeordnete.

Auch der Vorsitzende der Schweiz-Delegation im Europaparlament, Andreas Schwab (CDU), kritisierte die Entscheidung. Zugleich machte er deutlich, dass sie keinen Abbruch der Beziehungen bedeute. „Die Schweiz wird immer mitten in Europa liegen, die Europäische Union wird immer mit der Schweiz weiterverhandeln – im Interesse der Bürger, die morgens aus Frankreich nach Genf fahren, um dort im Kantonsspital wertvolle Arbeit zu leisten, oder für die Bewohner von Basel, die abends in Deutschland steuerfrei Lebensmittel einkaufen, weil sie sich diese in der Schweiz kaum mehr leisten können“, sagte er. „Wir brauchen weiter pragmatische Lösungen für die Menschen in der Region, die für das vermeintlich patriotische Hickhack in Bern kein Verständnis haben.“

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Außenminister Cassis versprach, sich nun für die bisher zurückgehaltene Auszahlung von 1,3 Milliarden Franken (1,2 Mrd Euro) zur Unterstützung der neueren EU-Mitglieder einzusetzen. Das Geld hätte schon ab 2016 fließen sollen, war aber wegen der laufenden Verhandlungen vom Parlament blockiert worden.

Die Schweiz und die EU arbeiten über viele Kooperationsabkommen eng zusammen. Nach EU-Angaben leben 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz – darunter 300.000 Deutsche. Gut 340.000 EU-Bürger pendeln jeden Tag in die Schweiz. 400.000 Schweizer leben in der EU. Der Handel mit der EU macht 60 Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts aus, gefolgt von den USA mit knapp zwölf Prozent. Umgekehrt ist die Schweiz für die EU der viertgrößte Handelspartner nach den USA, China und Großbritannien.

Mehr zum Thema: Die EU muss sich entschieden gegen den Staatsterrorismus des belarussischen Diktators Lukaschenko wehren. Ohne eine harte Reaktion der EU wird auch der Luftraum über Russland und der Türkei unsicher.

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