Schaut man sich Fotografien aus Afghanistan, Ägypten oder anderen Ländern der so genannten islamischen Welt in den 1960er oder 1970er Jahren an, so fällt vor allem eines auf: das offen getragene Haar vieler, vor allem junger Frauen, oftmals kombiniert mit kurzen Röcken und sichtbaren Knien. Man sieht da Frauen durch Kabul laufen und Mädchen an Schulbänken, die ganz offensichtlich dem westlichen Lebensstil nacheifern. Gleiches gilt für das Ägypten unter der Herrschaft Gamal Abdel Nassers. Aus der Türkei gibt es solche Bilder – mit zeitgemäß längeren Röcken – schon aus den 1920er Jahren.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte es kaum einen Zweifel geben: Die Zukunft der islamischen Welt schien in der Nachahmung westlicher (zeitweise auch kommunistischer) Staaten zu liegen. Die Führungsrolle in diesem Prozess hatte ganz ohne Frage die Türkei.
Ein westliches Land zu werden, war das Programm des Republik-Gründers Mustafa Kemal, bis heute „Atatürk“ - Vater der Türken - genannt. Die sichtbarsten Sinnbilder seines staatsmännischen Werkes waren die Abschaffung der arabischen und die Einführung der lateinischen Schrift, das Verbot des Fes als bis dahin traditionelle Kopfbedeckung der Männer und des Kopftuches der Frauen. In seiner berühmten „Hutrede“ und dem „Hutgesetz“ von 1925 legte Atatürk fest, dass die Türken europäische Hüte zu tragen hätten. Der Iran unter Shah Pahlawi legte bald nach und verordnete eine westlichen Vorbildern nachempfundene Pahlawi-Mütze.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Auch in Ägypten verschwand der Fes bald aus der Öffentlichkeit. In Syrien, bis 1944 unter französischer Mandatsverwaltung, setzten sich die modernisierungseifrigen neuen Eliten nicht nur Hüte auf (weswegen sie „Chapisten“ genannt wurden), sondern nutzten nach Atatürks Vorbild eine Zeitlang auch die lateinische statt der arabischen Schrift.
Wer sich nur ein klein wenig mit der Geschichte des Vorderen Orients im 19. und 20. Jahrhunderts befasst hat, wird wissen, dass Fragen der Kleidung und vor allem der Kopfbedeckung in diesen Ländern wenig mit Moden oder persönlichen Stil-Entscheidungen zu tun haben. Sie hatten stets und haben weiterhin hochpolitische Signalbedeutung.
Keine Frage, das Hutgesetz und all die anderen Reformen der Verwestlichung in islamischen Ländern waren nicht Ergebnis eines demokratisch artikulierten Volkswillens, sondern wurden von autoritär herrschenden Eliten verordnet. Kemal war ebenso wenig ein Demokrat wie Nasser oder der Shah. Die Verwestlichung bedeutete auch nicht, dass man die Europäer und Amerikaner verehrte oder gar liebte. Eher im Gegenteil. Der Westen war Vorbild, weil seine Staaten stark und mächtig waren, während die islamischen Staaten und erst recht die kolonialisierten Länder schwach und ohnmächtig erschienen.
Die Verwestlichung war in der Türkei ebenso wie in Ägypten, Syrien, Afghanistan oder dem Iran als Weg zur Selbstständigkeit gegen die europäischen Kolonialmächte und ihre offene politische oder versteckte ökonomische Dominanz gedacht. Man eiferte dem Westen nach, um ihm Paroli bieten zu können.
Nicht nur die Kleidung heutiger Frauen in islamischen Ländern inklusive der Türkei - das Kopftuchverbot ist mittlerweile offiziell abgeschafft - zeigt, wie sehr sich der Wind gedreht hat. In der gesamten islamischen Welt ist mehr oder weniger laut vor allem ein Ruf zu vernehmen, nämlich die Parole der ägyptischen Muslimbrüder: „Al-islam huwa al-hal“ – Der Islam ist die Lösung. Das bedeutet stets auch: Die Übernahme westlicher Werte ist es nicht!