Spätestens der nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli mit demonstrativer Härte sich offenbarende Wille der islamistischen AKP zur autoritären Herrschaft zeigt, dass auch die Türkei von ihrem seit Atatürk (und teilweise schon vorher) eingeschlagenen Weg abkehrt und die westlichen Gesellschaften und politischen Systeme nicht mehr als Vorbild der eigenen Entwicklung ansieht. Die neue Türkei unter der Herrschaft Erdogans und der AKP ist, wie der Islamologe Bassam Tibi feststellt, für den Westen bis auf weiteres verloren. Das ist ein Vorgang von weltgeschichtlicher Bedeutung, da es sich um das Land handelt, das bislang an der Spitze der Verwestlichung der islamischen Welt marschierte.
Erdogan und seine nationalen Islamisten demonstrieren gerade der gesamten islamischen Welt, dass man sich von den Europäern nichts mehr sagen lassen muss, sondern selbst erfolgreich Druck auf sie ausüben kann – nicht zuletzt mit der Drohung, die Schleusen für weitere Massenzuwanderung zu öffnen. Europa, seine unfreiwillige Führungsmacht Deutschland vorneweg, erscheint dadurch vor den Augen der gesamten, nicht nur islamischen Welt als schwach. Warum sollte man den Schwachen nacheifern?
Aber Moment. Weist die Kanzlerin nicht zu Recht immer wieder auf Deutschlands Stärke hin? Geht es uns nicht nachweislich besser als je zuvor? Und vor allem sehr viel besser als den Türken und erst Recht den Menschen in allen anderen islamisch geprägten Ländern?
Die Kanzlerin verwechselt da was – und nicht nur sie. Europa und Deutschland im Besonderen stehen wirtschaftlich gut da – vor allem im Vergleich zu den desolaten ökonomischen Verhältnissen in den meisten islamischen Ländern. Doch Reichtum ist nur innerhalb einer gewaltfreien, durch und durch zivilisierten, befriedeten Gesellschaft automatisch mit Stärke gleichzusetzen. Nicht nur aus der Perspektive vorderorientalischer, gewaltgewohnter Gesellschaften ist Deutschland zwar zweifellos ein reiches Land, aber kein starker Staat.
Denn ein Staat, dessen Regierungschefin offen verkündet, es sei unmöglich, die eigenen Grenzen zu schließen; dessen Behörden 600 Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber abbrechen, weil diese im Flugzeug randalieren; und dessen Polizei nicht in der Lage oder willens ist, die massenhafte Belästigung und Ausraubung hunderter Frauen zu verhindern oder auch nur zu ahnden, wird sicher weder den politischen Eliten noch den einfachen Leuten in der islamischen Welt als besonders nachahmenswertes Vorbild erscheinen.
Im Westen zu leben, an seinem Reichtum teil zu haben, ist zweifellos attraktiver als je zuvor für Muslime und andere Nicht-Europäer. Aber sich seinen Sitten anzupassen und seine Institutionen zu übernehmen, ob im Heimatland oder als Einwanderer, ist etwas ganz anderes. Das tut man allenfalls, wenn man von deren Überlegenheit über die eigenen Sitten und Institutionen überzeugt ist. Die westlichen Staaten und das Masseneinwanderungsland Deutschland vorneweg hätten guten Grund, die eigene Überlegenheit nach innen und außen selbstbewusst zu demonstrieren.
Ein starker Staat, der das Gewaltmonopol durchsetzt, für Recht und Ordnung sorgt, damit die Voraussetzung für individuelle bürgerliche Freiheit und Unternehmertum schafft, was wiederum die Voraussetzung von „Wohlstand für alle“ ist – das war es, was muslimische Staatsmänner wie Mustafa Kemal Atatürk am Westen bewunderten. Das wollten sie nachahmen. Einen erpressbaren, selbstlosen Feigling nimmt sich niemand zum Vorbild.