Knauß kontert
Merkel, Macron und Orban. Quelle: Illustration

Die drei zentralen Politiker in der EU

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Angela Merkels forcierter Universalismus hat in Viktor Orban einen offenen Gegenspieler gefunden. Zwischen den Extremen steht das bewährte Rezept des französischen Pragmatismus. 

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Durch den Schleier des Tagesgeschäfts hindurch sind in Europa drei Hauptströme der Politik erkennbar. Ihre prominentesten Vertreter kamen beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche in Brüssel zusammen – und gingen in offenem Zwist wieder auseinander. Es sind Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron, Deutschlands alte Kanzlerin Angela Merkel – und der Ungar Viktor Orban als Herausforderer.

Die drei Regierungschefs stehen für drei grundsätzliche Standpunkte zur alten Leitidee des Westens und der EU: zum Universalismus. Diese Standpunkte offenbaren sich vor allem in der Migrations(außen)politik, die zum konfliktträchtigsten und damit wichtigsten Thema in den meisten europäischen Ländern wird.

Der Universalismus ist im Westen die ethische Grundlage politischen Handelns. Er beruht auf dem selbstgesetzten Ziel, einerseits die Menschenrechte als humanitäres Prinzip weltweit durchzusetzen und andererseits den Weg frei zu machen für den Wachstumsdrang einer sich unweigerlich globalisierenden Wirtschaft.

Auch der Sowjetische Kommunismus bot nur eine andere, nicht markt- sondern planwirtschaftliche Methode zum Erreichen desselben Ziels: Eine von alten überkommenen Bindungen befreite, wohlhabende Welt, bevölkert von postnationalen Individuen, die nur noch Mensch und Wirtschaftssubjekt sein sollten. Grundsätzlicher, offener Widerspruch im Namen des Partikularen, also der eigenen Nation oder Kultur war seit 1945 kaum möglich.

In der konkreten Politik allerdings blieb der Partikularismus dennoch eine Realität, die in einem mehr oder weniger deutlich hervortretenden Widerspruch zum Universalismus steht. Dieses Spannungsverhältnis ist heute, da die Globalisierung von der Ökonomie angetrieben rasant voranschreitet, schärfer als je zuvor. Denn das Wohlstandsgefälle zwischen dem früh entwickelten globalen Norden und dem globalen Süden ist nicht etwa verschwunden, wie man gehofft hatte.

Im Gegenteil, trotz Entwicklungshilfe ist das Gefälle zumindest zu den islamischen Ländern und Afrika eher größer als kleiner geworden. Auch innerhalb Europas, das als Avantgarde-Projekt des Universalismus gesehen werden kann, hat die gemeinsame Währung dazu geführt, dass nationale Unterschiede der Wirtschaftskulturen nicht verschwanden, sondern umso deutlicher hervortraten.

Wie geht man nun mit diesen Krisensymptomen der beschleunigten Globalisierung um? In der EU offenbaren sich drei grundsätzliche Möglichkeiten.

Macron, der Pragmatiker

Die erste könnte man als pragmatischen Universalismus bezeichnen. Es war und ist das klassische Erfolgsrezept der westlichen Staaten, die den Universalismus hervorgebracht hatten – Frankreich, England, Amerika: Man argumentiert zwar meist universalistisch, handelt aber letztlich doch im eigenen, nationalen Interesse oder zumindest nicht dagegen.

Westliche Politik ging stets davon aus, dass die geschichtliche Reise irgendwie schon langfristig in Richtung der einen universalen Welt geht und dass natürlich theoretisch alle Menschen dieselben Rechte haben. Aber man hatte es nicht allzu eilig mit dem Weg zur einen Weltgesellschaft und arrangierte sich mit der partikularen Realität der Gegenwart – umso lieber als die Verschiedenheit für sie selbst sehr viel angenehmer war als für den größten Teil des Restes der Welt.

Jenseits der großen Worte blieb also der Primat der Nähe selbstverständlich: Regierungspolitik hat sich eher für das Eigene und das Näherliegende als für die ganze Welt und die anderen einzusetzen.

In dieser Tradition steht vermutlich auch der junge französische Präsident. Macron ließ es in seiner großen Rede an der Sorbonne nicht an europäischem Pathos mangeln. Aber seine Vorschläge für weitere Integrationsschritte haben doch einen ganz handfesten Effekt, der für ihn und seine Wähler entscheidend sein dürfte: Sie würden Frankreich (vor allem deutsches) Geld verschaffen, das Macron braucht, um seine nationalen Reformen weniger schmerzhaft durchziehen zu können.

Deutschland steht offensichtlich nicht in dieser pragmatisch-universalistischen Tradition. Kein Wunder, es ist das Land, das vor 1945 am entschiedensten Widerstand gegen den Universalismus leistete – und durch die Verbrechen des Nationalsozialismus den offenen Partikularismus vollkommen delegitimierte.

Aus dem großen Gegner des Universalismus ist nach 1945 dessen eifrigster Anhänger geworden. In kaum einem anderen Land der EU und der Welt (am ehesten vielleicht noch Schweden) ist die Diskrepanz zwischen universalistischer Ethik und tatsächlicher Politik daher heute so gering wie hierzulande. Nirgendwo sonst ist der Wille, den Weg in die Weltgesellschaft zu beschleunigen und das „Eigene“ endgültig hinter sich zu lassen, so stark. In kaum einem anderen Land zeigen sich regierende Politiker derart überzeugt, dass es ihre Verantwortung sei, globale Probleme zu lösen (zum Beispiel Fluchtursachen) und den Interessen Europas und der gesamten Menschheit Priorität vor denen des eigenen Landes zu geben.

Merkel gegen Orban

Dabei spielt auch der Anspruch eine Rolle, ein Vorbild für andere abzugeben. Der Atomausstieg und die Energiewende werden von der Bundesregierung und ihr nahestehenden Medien und Akteuren immer wieder dadurch gerechtfertigt, dass Deutschland der Welt beweisen müsse, dass das möglich sei.

Vermutlich spielte dieses Avantgarde-Motiv auch bei Merkels Entscheidung eine Rolle, den Zustrom von Migranten aus dem Nahen Osten im Herbst 2015 nicht aufzuhalten, sondern anzunehmen. Seither pocht die Bundesregierung darauf, dass die anderen EU-Staaten es Deutschland zumindest tendenziell oder symbolisch – durch „Verteilung“ von Flüchtlingen – gleichtun. Wie der EU-Gipfel in dieser Woche erneut belegte, ist ihr das nicht gelungen.

Von den pragmatischen Universalisten wurde Deutschlands so genannte Flüchtlingspolitik und seine „Willkommenskultur“ nicht offen abgelehnt. Man zieht nur eben nicht konsequent mit. In Frankreich scheint man stillschweigend erleichtert zu sein, dass Deutschland spätestens seit 2015 zum attraktivsten europäischen Land für Armutsmigranten aus Afrika und dem Nahen Osten geworden ist. Und dadurch die eigene Belastung deutlich mindert. Ebenso in Italien, das dank Deutschland einen Großteil der an seinen Küsten Ankommenden über den Brenner weiter „flüchten“ lassen kann.

"Unser Land verträgt keinen Stillstand"
Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG"Unser Land verträgt keinen Stillstand", erklärt VW-Chef Matthias Müller. Es müssten wichtige Entscheidungen für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands getroffen und deshalb schnell klare Verhältnisse geschaffen werden. "Eine Hängepartie können wir uns nicht erlauben." Quelle: dpa
Christoph Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrats ("Die fünf Wirtschaftsweisen")Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, hat angesichts des Scheiterns der Jamaika-Sondierungen vor einem Regierungsbündnis aus ständig miteinander streitenden Parteien gewarnt. "Ein Bündnis, deren Partner sich in den kommenden Jahren vor allem gegenseitig blockieren würden, wäre wohl noch schlechter als eine schleppende Regierungsbildung", sagte Schmidt am Montag. Auch habe der Abbruch der Gespräche für eine Koalition aus Union, FDP und Grünen die Ausgangslage für die deutsche Wirtschaft derzeit kaum verändert. "In jedem Fall sind die negativen Auswirkungen der gescheiterten Jamaika-Sondierungen eher langfristiger als konjunktureller Natur", sagte der Ökonom. Nach wie vor sei die konjunkturelle Lage in Deutschland sehr gut, betonte Schmidt. Die Wirtschaft erlebe einen langen und robusten Aufschwung. Allerdings gebe es mittel- und langfristig große Herausforderungen, wie der demografische Wandel, die Digitalisierung oder die Fortentwicklung der Europäischen Union. Darauf müsse eine neue Regierung Antworten finden. Quelle: dpa
Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts Quelle: dpa
Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer Quelle: REUTERS
Thilo Brodtmann, VDMA-Hauptgeschäftsführer Quelle: VDMA
Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen Quelle: Presse
Matthias Wahl, Präsident des Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) Quelle: PR

Auch Viktor Orban weiß wie alle anderen Realisten inklusive vermutlich Merkel selbst, dass die „Verteilung“ von Flüchtlingen ohnehin nicht praktikabel ist. Er könnte es also mit pragmatischem Universalismus bewenden lassen, wenn es ihm nur darum ginge, Belastungen für sein Land gering zu halten. Denn solange die Sozialleistungen und Arbeitsmarktperspektiven in Deutschland und den anderen Lieblingszielländern der Einwanderer derart attraktiv und der staatliche Wille zur Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen derart gering bleibt, kann niemand ernsthaft konsequente Massenverteilungsaktionen Richtung Ungarn oder Polen erwarten.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die meisten Verteilten ohnehin bald wieder dahin gehen, wo sie hinwollen (meist Deutschland) und ihnen dort keine scharfen Sanktionen drohen. De facto entscheiden die Zuwanderer, von welchem Staat sie sich versorgen lassen.

Dennoch setzt Orban auf offenen Widerspruch. Es geht ihm anscheinend ums Grundsätzliche: Er lehnt den von Merkel personifizierten Universalismus offen zu Gunsten des Partikularismus ab. Sein Ungarn, aber auch Polen und Tschechien praktizieren das Primat der Nähe, also den Vorrang des Eigenen vor dem Universellen, nicht nur im Handeln, sondern propagieren es auch offen als politische Leitlinie. Orban, der an intellektuellem Format den anderen großen Partikularisten außerhalb der EU (von Trump bis Putin) nicht nur gewachsen, sondern durchaus überlegen ist, hat sich selbst zum großen Herausforderer des europäischen Universalismus erhoben.

Orban und Merkel, Ungarns Grenzzaun und Deutschlands Willkommenskultur, das sind die Pole zwischen denen die Politik in der EU auf absehbare Zeit stattfinden wird.

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