Knauß kontert

EU, halt mal inne!

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Die EU als ökonomische Verheißung

Jenseits der großen Reden war die europäische Einigung für die Normalbürger in den Mitgliedsstaaten stets weniger eine idealistische Angelegenheit (außer vielleicht in Deutschland), sondern schien eine Besserung ihrer sozioökonomischen Lage zu verheißen. Die EU ist das politische Projekt des 20. Jahrhunderts. Sie ist Teil der großen Verheißung der Moderne, wonach alles immer besser werde und man immer mehr von allem haben werde. In ihr kommen all die Bausteine des spätestens nach 1945 zur säkularen Ersatzreligion gewordenen ökonomistischen Fortschrittsglaubens zusammen. Die EU ist ein Expansionsprojekt. In der Formel einer „ever closer union“ steckt der selbst auferlegte Zwang des nicht stehen bleiben Dürfens.

Die immerwährende Erfüllung einer unendlich wachsenden Verheißung ist spätestens im postheroischen Zeitalter seit 1945 zur einzigen Legitimation politischer Führung geworden. Etwas anderes als wachsender Wohlstand als politisches Versprechen fällt der politischen Klasse der westlichen Welt bis heute nicht ein. In Gesellschaften, denen der Idealismus grundsätzlich abhanden gekommen ist, auf europäischen Idealismus zu setzen, wirkt darum kitschig und letztlich unglaubwürdig.

Letztlich läuft es dann doch auch bei den europäischen Musterschülern in Deutschland auf die Behauptung hinaus, man sei als Exportnation ein großer Profiteur der EU. So richtig niet- und nagelfest belegt findet man das nicht. So schleicht sich bei manch einem Arbeitnehmer der Verdacht ein, dass mit diesem von der EU und dem Euro profitierenden Deutschland wohl nicht alle Steuerzahler gleichermaßen gemeint sind, sondern eben vor allem die unmittelbaren Nutznießer der deutschen Exportweltmeisterschaft: Großunternehmer, Aktionäre, Finanzinvestoren. Die Verpflichtungen der de-facto-Haftungsunion, auf die die Visionen Macrons hinauslaufen, werden aber alle zu spüren bekommen. Welchen Grund sollte ein durchschnittlicher deutscher Arbeitnehmer haben, für diese Aussicht zu schwärmen?

Es ist kein irrationales Verhängnis, sondern angesichts der Lage Europas ganz folgerichtig, dass in immer mehr Köpfen die Ahnung heranreift: Das  Versprechen des „immer mehr“ ist eben doch nicht endlos erfüllbar. Für manche könnte es sogar bald weniger werden.

Das letzte Buch des kürzlich verstorbenen polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman heißt „Retrotopia“. Mit dieser Wortneuschöpfung ist das Empfinden der Europäer gemeint, dass die besseren Zeiten, von denen die Ahnen in Utopien träumten, nun in der Vergangenheit liegen. In einem Interview, wenige Wochen vor seinem Tode sagte Bauman im September 2016: „Wir erleben derzeit die wahrscheinlich wichtigste Kehrtwende im vorherrschenden Denken. Die jungen Menschen in Europa und wohl auch in Deutschland erwarten von der Zukunft keine Gewinne, sondern Verluste. Sie sind die erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, die befürchtet, dass sie den Lebensstandard und die Lebensqualität ihrer Eltern nicht erreichen oder halten kann. Anscheinend ist Frankreich die pessimistischste Nation in Europa. Eine große Mehrheit sorgt sich, dass die Zukunft schlechter sein werde als die Vergangenheit. Unglaublich! Utopien erblickten gleichzeitig mit der Moderne das Licht der Welt und konnten sich nur im Klima der Moderne entfalten. Ihr Ende signalisiert auch das Ende der Moderne.“

Für Politiker der Europäischen Union, des modernen Projekts par excellence, ist das natürlich schwer zu akzeptieren. Stärke würde beweisen, wer nun eingestünde, dass man sich in Irrwegen verrannt hat, dass man  zunächst innehalten, gründlich nachdenken, vielleicht einen anderen Weg einschlagen müsse - statt atemlos einfach weiterzugaloppieren, während das Fußvolk allmählich den Anschluss verliert.

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