Knauß kontert Die französische Revolution des Parteiensystems

Frankreich Wahl: Macron und Le Pen in der Stichwahl. Quelle: dpa Picture-Alliance

Das Ancien Régime der Parteien ist nicht nur in Frankreich am Ende. Wenn jede Wahl als Zitterpartie empfunden wird, hat sich etwas grundlegend geändert.

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2017 wird als Jahr einer fundamentalen Veränderung in die französische und damit wohl auch europäische Geschichte eingehen. Das kann man jetzt, eine Woche nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und eine Woche vor der zweiten Runde, schon sagen.

Fast überall in Europa wälzen sich die parteipolitischen Verhältnisse um. Aber in Frankreich, das seit etwa 300 Jahren stets Pionier der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Europa ist, vollzieht sich dieser Prozess auch heute wieder zuerst und in besonders drastischer, geradezu revolutionärer Deutlichkeit. Dort ist das Ancien Régime der etablierten Parteien der V. Republik am vergangenen Sonntag zusammengebrochen. Die Kandidaten der gemäßigten Linken, Benoît Hamon, und der gemäßigten Rechten, François Fillon, schafften es beide nicht in die Stichwahlen. Die sozialistische Partei ist mit rund sieben Prozent am Boden zerstört. Möglicherweise wird sie sich bald ganz von der politischen Bühne verabschieden. Einige bekannte Köpfe sind schon zum siegreichen Emmanuel Macron und seiner Bewegung „En Marche!“ übergelaufen. Bei den sich auf de Gaulle zurückführenden gemäßigt rechten „Republicains“ sieht es nur wenig besser aus. Wie Hamon empfahl Fillon, nun im zweiten Wahlgang Macron zu wählen. Der wird dadurch zum Sachwalter der bisherigen etablierten Parteien erklärt.

Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron

Der wahrscheinliche Präsident Macron kann sich mit seinen noch nicht mal vierzig Lebensjahren als unverbrauchter großer Erneuerer inszenieren, ist aber andererseits mit ENA-Abschluss, als früherer Investmentbanker und Wirtschaftsminister die personifizierte Funktionselite. Er ist die ideale Besetzung, um mehr oder weniger alles hinter sich zu scharen und zu revitalisieren, was von den alten, als korrupt und verlebt empfundenen Parteien übrig ist.

Die Erleichterung in fast allen westlichen Demokratien über Macrons Sieg in der ersten Runde zeigt, wie groß die Nervosität ist. Die französischen Präsidentschaftswahlen werden wie die anderen großen Wahlen und Referenden des vergangenen und aktuellen Jahres, zuletzt in den Niederlanden, als Zitterpartie wahrgenommen: Stets steht die gesamte politische Klasse Europas und deren Grundkonsens in der Defensive gegen Fundamentalkritik, vertont durch die sogenannten Populisten. Und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass das in absehbarer Zukunft anders sein wird. Der parteipolitische Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand.

"Die Mitte ist stärker, als die Populisten glauben"
Nach Ansicht von Kanzleramtschef Peter Altmaier hat das französische Wahlergebnis gezeigt, dass "die Mitte stärker ist als die Populisten glauben". Er twittert: "Das Ergebnis für @EmmanuelMacron zeigt: Frankreich UND Europa können gemeinsam gewinnen!" Quelle: dpa
Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht hat das gute Abschneiden des sozialliberalen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron in Frankreich bedauert. Wäre der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon in die Stichwahl gekommen, hätte die französische Bevölkerung eine echte Alternative, sagte Wagenknecht der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Der ehemalige Investmentbanker Macron dagegen steht für die Fortsetzung und Verschärfung genau jener Politik des Sozialabbaus und forcierter Privatisierungen, die den reaktionären Front National Le Pens erst stark gemacht hat und absehbar weiter stärken wird“, sagte Wagenknecht. Macron zieht Hochrechnungen zufolge mit der Rechtspopulistin Marine Le Pen am 7. Mai in die Stichwahl um das Präsidentenamt. Er gilt als Favorit. Wagenknecht gratulierte Mélenchon „zu seinem grandiosen Ergebnis“. Quelle: dpa
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sieht den Erfolg des linksliberalen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron im ersten Wahlgang in Frankreich auch als Auftrag für die Parteien in Deutschland. „Nach den Niederländern haben nun auch die Franzosen den Europafeinden mehrheitlich eine Absage erteilt: Europa wählt europäisch“, sagte Oppermann der Deutschen Presse-Agentur. Er sei sehr zuversichtlich, dass sich Macron auch in der Stichwahl in zwei Wochen durchsetzen werde. „Nun gilt es in Deutschland dafür zu kämpfen, dass die immer weiter nach rechts driftende AfD nicht in den Bundestag einzieht.“ Quelle: dpa
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat den Wahlerfolg des französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron begrüßt. „Zu sehen, wie die Flaggen Frankreichs und der EU das Ergebnis von Emmanuel Macron begrüßen - das ist die Hoffnung und die Zukunft unserer Generation“, schrieb die Politikerin am Sonntagabend bei Twitter. Quelle: AP
AfD-Chefin Frauke Petry hat der Vorsitzenden der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, zum Einzug in die Stichwahl in Frankreich gratuliert. Die Abstimmung habe gezeigt, dass Frankreich ebenso wie Deutschland „den Mehltau aus Stagnation und übertriebener politischer Korrektheit eine deutliche Ablehnung erteilt und sich Alternativen wünscht“, meinte die nach dem Kölner AfD-Parteitag vom Wochenende angeschlagene Bundes- und sächsische Landesvorsitzende am Montag in Dresden. Viele Bürger hätten für Le Pen gestimmt, weil sie einen Umbau wollten. „Ich freue mich mit ihr zusammen über dieses klare Signal an die Spitzen der EU und auch an bundesdeutsche Politiker, dass ihre Politik des Ausgrenzens und Stigmatisierens der Wähler inzwischen als das gesehen wird, was es in Wahrheit ist: eine übermoralisierende Impertinenz“, sagte Petry. Quelle: dpa
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat sich nach den ersten Hochrechnungen zur Präsidentenwahl in Frankreich optimistisch gezeigt. „Ein Signal für Europa, ein Signal der Erneuerung“, twitterte der Politiker am Sonntagabend nach ersten Hochrechnungen. „Emmanuel Macron macht auch Deutschland Mut.“ Quelle: dpa
„Ich bin sicher, er wird der neue französische Präsident“, sagte Außenminister Sigmar Gabriel am Sonntag in der jordanischen Hauptstadt Amman. „Er war der einzige pro-europäische Kandidat, der sich nicht versteckt hat hinter Vorurteilen gegenüber Europa.“ Macron sei ein „toller Präsidentschaftskandidat“, aber auch „ein ungeheuer sympathischer Mensch und ein guter Freund“. Quelle: dpa

Bei all der öffentlichen Unterstützung, die Macron aus Berlin zuteil wird, geht völlig unter, was seine Präsidentschaft für Deutschland bedeuten würde. Nämlich nicht viel Gutes. Dass dessen europapolitische Vorstellungen zu Lasten der deutschen Steuerzahler gehen, weil er ein echtes EU-Budget und die Sozialisierung der Staatsschulden inklusive Euro-Bonds will, scheint völlig egal zu sein. Hauptsache er ist pro-EU und lobt Merkel - und vor allem ist er gegen Le Pen.

Die etablierten politischen Kräfte, ob in Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder Frankreich, haben das Wachstum der populistischen Herausforderer und damit die Fundamentalisierung von Wahlen auch selbst mit zu verantworten. Seit den 1990er Jahren haben sie ihre früheren programmatischen Gegensätze zu Gunsten eines marktbejahenden (Kritiker würden sagen „neoliberalen“), globalisierungs- und europäisierungsfreudigen Konsenses entsorgt. In den christdemokratischen, beziehungsweise gaullistischen Parteien wurden konservative Skeptiker dieses Fortschrittskonsenses ebenso marginalisiert wie die marxistisch geprägten Antikapitalisten in den sozialdemokratischen. Das Ergebnis ist eine selbsterklärte Alternativlosigkeit einer Parteien-Technokratie, die Colin Crouch als „Postdemokratie“  kritisiert.

Wirtschaftspolitische Pläne von Marine Le Pen

Die bisherigen Wähler beider Parteifamilien, die deren konsensualen Kurs als Bedrohung ihrer materiellen und kulturellen Sicherheit empfinden, werden damit politisch heimatlos -  und empfänglich für neue politische Alternativen. In Frankreich, wo die Arbeiterschaft und die Landbevölkerung mittlerweile in weiten Teilen zum Front National übergelaufen sind, ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Mit über 21 Prozent der Wählerstimmen ist der FN nicht mehr als Randphänomen marginalisierbar. Zählt man die Wähler des linksextremen Jean-Luc Mélenchon dazu, der nur in seiner Einwanderungsfreundlichkeit wesentlich von Le Pen abweicht, wird deutlich: Rund 40 Prozent der französischen Wähler stehen gegen den Konsens der Eliten. Da offenbart sich, dass aus einer gesellschaftlichen Konfliktlinie eine neue politische Konstellation geworden ist, in der die alten Kontrahenten gemeinsam auf der einen Seite stehen, und eine neue Opposition ihnen entgegensteht. Ob es dem stärkeren Teil der neuen Opposition, dem Front National, gelingt, den schwächeren Teil, die Mélenchon-Anhänger, zum Partner zu gewinnen, wird eine entscheidende Frage für deren künftige Regierungsfähigkeit sein.

Deutsche Besonderheiten

Deutschland scheint von dieser neuen Parteienkonstellation noch weit entfernt. Doch das könnte sich ändern. Eine entscheidende Voraussetzung besteht auch hierzulande: Der programmatische Schulterschluss von Christ- und Sozialdemokraten plus Grünen ist längst Realität. Seit den 90er Jahren gehen alle miteinander Pizza essen, man duzt sich überparteilich und jeder kann mit jedem koalieren.

Welcher deutsche Wähler könnte schon die programmatischen Unterschiede zwischen Schulz‘ SPD und Merkels CDU benennen? Sie finden sich allenfalls in technokratischen Details und ideologischen Nuancen, die in wenigen Schlagworten wie „soziale Gerechtigkeit“ zu Mobilisierungszwecken fast grotesk überbetont werden. Verglichen mit den Zeiten Adenauers und Schumachers oder Barzels und Brandts sind heutige Wahlkämpfe zwischen CDU und SPD längst zu Karikaturen früherer Richtungsentscheidungen geworden. Merkel und Schulz unterscheidet, wie ein Kollege der „Welt“ treffend schrieb, tatsächlich „nur der Bart“.

Le Pen will „Gift“ radikaler Islamisten „ausrotten“
Ihre Feindbilder sind „das System“ und „die Globalisierung“: Marine Le Pen ist eine der bekanntesten Figuren des Rechtspopulismus in Europa. Le Pen kam 1968 als jüngste Tochter des rechtsextremen Polit-Haudegens Jean-Marie Le Pen zur Welt. Im Alter von acht Jahren wurde sie von einer Bombenexplosion aus dem Schlaf gerissen - ein Anschlag auf ihren Vater, dessen Hintergründe nie geklärt wurden. Sie studierte Jura und arbeitete als Rechtsanwältin, bis sie 1998 die Justizabteilung des Front National (FN) übernahm. 2011 übernahm sie die Führung des FN von ihrem Vater. Die 48-Jährige hat der Partei ein gemäßigteres Auftreten verordnet, offenen Rassismus zurückgedrängt. Für diese Strategie ließ sie sogar ihren Vater aus der Partei ausschließen. Sie vertritt aber weiter radikale Positionen gegen die Europäische Union, den Euro und Einwanderung. Le Pen ist zudem Abgeordnete im EU-Parlament. Vorwürfe zur Verwendung von EU-Mitteln, wegen denen auch die französische Justiz ermittelt, lässt sie als Manöver ihrer politischen Gegner an sich abperlen.Nachfolgend einige ausgewählte Zitate Marine Le Pens. Quelle: dpa
Marine Le Pen Quelle: AP
Marine Le Pen Quelle: REUTERS
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Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen Quelle: dpa
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Dass die AfD so viel schwächer als der Front National ist, dürfte einerseits an der unverhältnismäßig guten Lage des deutschen Arbeitsmarktes liegen und andererseits an der hierzulande aus historischen Gründen besonders ausgeprägten Sensibilität gegen nationalistische, in irgendeiner Weise als „rechts“ empfundene Positionen. Dazu kommt der Mangel an demagogischem Talent bei der AfD. Dennoch: Harter politischer Streit, ja Feindschaft, wie man sie aus Bundestagsdebatten der 19070er Jahre kennt und jetzt in Frankreich zwischen Macron und Le Pen erlebt, kommt in der Bundesrepublik von 2017 nur auf, wenn die AfD im Spiel ist. 

Dieses Entstehen einer neuen parteipolitischen Konfliktkonstellation ist nicht inhaltlich aber strukturell mit dem parlamentarischen Aufstieg der Sozialdemokraten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Die von den damals etablierten konservativen und liberalen Parteien unbefriedigten Interessen der neuen Arbeiterklasse führten in allen europäischen Ländern zum Aufschwung von mehr oder weniger marxistischen Arbeiter-Parteien.

In Bismarcks Deutschland galten sie zunächst als „Reichsfeinde“, eine Stigmatisierung, die jeden anständigen Bürger davon abhalten sollte, sie zu wählen. Aber selbst härtere Repressalien – die von 1878 bis 1890 gültigen „Sozialistengesetze“ – konnten deren zunehmende Stimmengewinne nicht verhindern. Bei den Reichstagswahlen 1912 wurden sie die größte Partei, ohne die kaum noch zu regieren war. In Großbritannien kippte das alte Zweiparteiensystem von Konservativen und Liberalen, das die britische Geschichte des 19. Jahrhunderts geprägt hatte, ab 1906 in nur wenigen Legislaturperioden zum neuen Zweiparteiensystem von Konservativen und Arbeiterpartei, dass dann bis heute die britische Politik prägte.

Vier Gründe für das starke Abschneiden der Extremen

 

Gesellschaftliche Interessenkonflikte, wie der zwischen den Profiteuren der migrationsoffenen, europäisch integrierten oder gar globalisierten Markt-Gesellschaft und den weiterhin national denkenden Gegnern und Verlierern dieser Entwicklung, lassen sich auf Dauer nicht mit moralisierenden Argumenten übertünchen. Wenn etablierte Parteien das ganze Spektrum der politischen Interessen nicht mehr selbst repräsentieren können oder wollen, werden sie sich letztlich damit abfinden müssen, dass ihnen eine neue politische Konkurrenz entsteht, die den Job übernimmt.  

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