Abseits der jamaikanischen Sondierungen und anderer Schreckensmeldungen aus aller Welt ereignet sich doch noch die eine oder andere gute Nachricht. Zumindest in der Wissenschaft: Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln hat einen Nachfolger für den vor drei Jahren emeritierten Wolfgang Streeck gefunden.
Lucio Baccaro stammt aus einem Land, das, wie er selbst in seinem ersten Vortrag am Institut sagte, nur noch durch ein „Gleichgewicht der Furcht“ zusammengehalten wird: Italien. Ein Land nämlich, das bei der Suche nach einem neuen Wachstumsmodell für seine Volkswirtschaft besonders erfolglos war. Ein Land, das den Euro wollte, aber dessen Wirtschaft keine schlüssige Antwort auf die Bedingungen findet, die die Gemeinschaftswährung stellt.
Baccaro sieht, ähnlich wie sein Vorgänger, den Kapitalismus als ein zutiefst krisenhaftes System an, heute mehr denn je und längst nicht nur in Italien. „Unhinged capitalism“ - der aus den Angeln geratene Kapitalismus - war das Thema seines ersten Vortrages in Köln. Es wird sein Forschungsprogramm der kommenden Jahre am MPIfG bestimmen.
Baccaros Ausgangspunkt ist diese Diagnose: Das nach dem Zweiten Weltkrieg überall im Westen erfolgreiche lohngetriebene, „fordistische“ Wachstumsmodell funktioniert nicht mehr. Seine Zentralachse war ein institutionalisierter Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital, bei dem die Lohnaushandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden der Treiber waren – für den Anstieg der Konsumentennachfrage ebenso wie für den Innovationszwang der Unternehmen. Voraussetzung dafür waren starke Institutionen, die den Kapitalismus vor sich selbst schützten durch staatliche Kapitalkontrollen, begrenzten internationalen Handel.
Die Kräfte, die diesen alten Kapitalismus aus den Angeln heben? Liberalisierung, sagt Baccaro. Betrieben nicht nur von den Unternehmen, sondern von den Staaten vorneweg. Dazu gehören nicht zuletzt die Ausweitung des internationalen Handels, die der Forderung nach Lohnzurückhaltung ein Totschlagargument liefert, und die ebenso gestiegene Mobilität des Kapitals, die die Empfindlichkeit für die Erträge von Investitionen deutlich steigerte. Und dies werde gestützt durch einen ökonomischen Diskurs, in dem das Interesse einer Klasse – nämlich der investierenden – als das nationale erscheine.
Was aber bleibt, war der offenbar unverzichtbare Wachstumszwang der Volkswirtschaften. Er führt sie zu unterschiedlichen neuen Modellen: Großbritannien setzt auf Konsum als Treiber, Deutschland auf den Export, Schweden auf eine Mischung aus beidem, und Italien? Weder noch! „There is nothing“, sagte Baccaro. Höchst unstabil seien aber auch die scheinbar erfolgreichen Modelle wie Deutschland.
Zukunftsträume von Keynes und Erhard
Furcht, Verunsicherung und Instabilität. Das hat uns also nach rund 70 Jahren der Kapitalismus gebracht? Nun ja, immerhin auch einen extrem gestiegenen Wohlstand.
Möglicherweise neigen Wirtschaftssoziologen, angeregt durch die Lektüre der „Great Transformation“ von Karl Polany, ebenso zur Betonung der kapitalistischen Zerstörungsleistungen an der Gesellschaft wie Ökonomen zum affirmativen Fortschrittsoptimismus. Allein: Furcht, Unsicherheit und Instabilität, die Baccaro ebenso wie sein Vorgänger Streeck attestiert, sind nicht zu leugnen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Wohlstandsgewinne, die der Kapitalismus seit 1945 in einem atemberaubenden Tempo erbrachte, nicht die von den großen Optimisten seinerzeit versprochenen gesellschaftlichen Ergebnisse mit sich brachten.
Nehmen wir zwei dominante Wirtschaftsdenker, die als ideelle Väter (zweier Varianten) der Wohlstandswirtschaft des 20. Jahrhunderts gelten können: John Maynard Keynes und Ludwig Erhard. Beide versprachen sich für die damals fernere Zukunft, also unsere Gegenwart, ein Ende des Materialismus, der Fixierung auf Märkte, Wirtschaft und Erwerb. Stattdessen stellten sie sich Gesellschaften vor, in denen Kultur und Muße das Leben prägten. Keynes prophezeite in seinem berühmten Aufsatz über die „wirtschaftlichen Aussichten unserer Enkelkinder“ (1931): „Wir werden diejenigen ehren, die uns lehren können, wie wir die Stunde und den Tag tugendhaft und gut vorbeiziehen lassen können, die fähig sind, sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen, die Lilien auf dem Feld, die sich nicht mühen und die nicht spinnen.“ Ludwig Erhard versuchte in einem ganzen Kapitel seines berühmten „Wohlstand für Alle“ darzulegen, dass es gerade der Wohlstand sei, der den materialistischen Wachstumsdrang überwinden werde: „Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, daß zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen „Fortschritt“ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“
Keynes und Erhard haben sich geirrt. Ihre Visionen sind nicht eingetreten. Im Gegenteil. Kapitalistische Wachstumswirtschaften erzeugen zwar Wohlstand, aber bringen keine stabilen, in sich selbst ruhenden Muße-Gesellschaften hervor. Der strukturelle Zwang zum Wachstum, der dem real existierenden Kapitalismus offenbar innewohnt, ist bis heute ungebrochen und wird von Eliten in Politik und Wirtschaft immer wieder neu beschworen. Kapitalistische Gesellschaften sind bereit, ihm unter der Fahne der Liberalisierung noch die letzten marktfernen Schutzräume zu öffnen.
So rational und alternativlos, wie Ökonomen dies meist behaupten, ist diese Handlungsdevise des „Wachstum über Alles“ keineswegs. Selbst wenn die westeuropäischen Volkswirtschaften viele Jahre einer Rezession erlebten, würden sie deutlich mehr Wohlstand produzieren als im Jahr 1957, als Erhards Buch erschien, oder als man sich zu Keynes‘ Zeiten während der Weltwirtschaftskrise überhaupt vorstellen konnte. Die Wohlstandsziele der Generation von Keynes und Erhard für sich und ihre Nachkommen (also uns heutige) sind längst um ein vielfaches übererfüllt. Und doch „fürchtet“ man sich in diesen Ländern vor ausbleibendem weiterem Wachstum.