Und nicht nur das. Auch das spätestens in der so genannten Flüchtlingskrise 2015/16 offensichtlich gewordene Scheitern des Schengen-Systems der offenen EU-Binnengrenzen weigert sich Juncker ganz offensichtlich zur Kenntnis zu nehmen. O-Ton Juncker: „Wenn wir den Schutz unserer Außengrenzen verstärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.“
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Wieviel Lernunwille ist notwendig, um nach den Erfahrungen der Eurokrise und angesichts des nicht funktionierenden Grenz- und Migrationsregimes der EU, der Entscheidung der Briten für den Brexit und dem Anwachsen EU-skeptischer bis –feindlicher politischer Bewegungen in fast allen Mitgliedsstaaten eine solche Rede zu halten? Eine Rede, die angeblich „die Lage der Union“ zum Inhalt hat, aber nicht die geringste Einsicht in ganz offensichtliche Holzwege der europäischen Integrationspolitik zeigt. Stattdessen spricht er von „Wind in unseren Segeln“.
Junckers Rezept für europäische Politik erinnert an einen unbelehrbaren Trotzkopf: Schengen versagt, also mehr Schengen. Der Euro ist gescheitert, also mehr Euro. Die EU-Staaten driften auseinander, also mehr Integration.
Doch Juncker ist mit dieser Strategie der Verweigerung gegen das Lernen aus Erfahrung in Europa nicht allein. Die Bundeskanzlerin macht es schließlich ähnlich.
Noch vor weniger als einem Jahr, beim CDU-Bundesparteitag im Dezember in Essen hatte sie der verunsicherten Parteibasis in einer bemerkenswerten Rede ein vernehmbares Signal der Einsicht eigener Fehler gegeben: "Eine Situation wie im Sommer 2015 darf sich nicht wiederholen." Dieser Satz schaffte es als zentrale Botschaft auch ins Wahlprogramm der CDU.
Zuvor, am 19. September 2016, nach der katastrophalen Wahl in Berlin hatte sie sogar noch selbstkritischer geklungen: "Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen", sagte sie. "Die Situation hat uns im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet getroffen", und am erstaunlichsten: "Wir hatten eine Zeit lang nicht ausreichend die Kontrolle."
Doch davon will die Kanzlerin nun offenbar nichts mehr wissen. Sie würde alles wieder so machen, wie sie es 2015 getan hat, verkündete sie in jüngster Zeit mehrfach.
Aus Fehlern klug werden? Lebenslang lernen? Was für normale Menschen ein Bildungsprozess ist und für Erwerbstätige die Voraussetzung des Bestehens am Arbeitsmarkt, scheint für den Erfolg als Spitzenpolitiker in Deutschland und Europa nicht relevant zu sein. An der Spitze der Bundesregierung und der Europäischen Kommission kann man ganz offensichtlich auch dann bleiben, wenn man offen zeigt, dass man nichts lernt und aus Erfahrung nicht klüger wird.