Knauß kontert

Lebenslang lernen? Gilt nicht für Spitzenpolitiker

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Euro gescheitert? Also mehr Euro!

Und nicht nur das. Auch das spätestens in der so genannten Flüchtlingskrise 2015/16 offensichtlich gewordene Scheitern des Schengen-Systems der offenen EU-Binnengrenzen weigert sich Juncker ganz offensichtlich zur Kenntnis zu nehmen. O-Ton Juncker: „Wenn wir den Schutz unserer Außengrenzen verstärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.“

Die fünf großen Baustellen der EU

Wieviel Lernunwille ist notwendig, um nach den Erfahrungen der Eurokrise und angesichts des nicht funktionierenden Grenz- und Migrationsregimes der EU, der Entscheidung der Briten für den Brexit und dem Anwachsen EU-skeptischer bis –feindlicher politischer Bewegungen in fast allen Mitgliedsstaaten eine solche Rede zu halten? Eine Rede, die angeblich „die Lage der Union“ zum Inhalt hat, aber nicht die geringste Einsicht in ganz offensichtliche Holzwege der europäischen Integrationspolitik zeigt. Stattdessen spricht er von „Wind in unseren Segeln“.

Junckers Rezept für europäische Politik erinnert an einen unbelehrbaren Trotzkopf: Schengen versagt, also mehr Schengen. Der Euro ist gescheitert, also mehr Euro. Die EU-Staaten driften auseinander, also mehr Integration.

Doch Juncker ist mit dieser Strategie der Verweigerung gegen das Lernen aus Erfahrung in Europa nicht allein. Die Bundeskanzlerin macht es schließlich ähnlich.

Noch vor weniger als einem Jahr, beim CDU-Bundesparteitag im Dezember in Essen hatte sie der verunsicherten Parteibasis in einer bemerkenswerten Rede ein vernehmbares Signal der Einsicht eigener Fehler gegeben: "Eine Situation wie im Sommer 2015 darf sich nicht wiederholen." Dieser Satz schaffte es als zentrale Botschaft auch ins Wahlprogramm der CDU.

Zuvor, am 19. September 2016, nach der katastrophalen Wahl in Berlin hatte sie sogar noch selbstkritischer geklungen: "Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen", sagte sie. "Die Situation hat uns im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet getroffen", und am erstaunlichsten: "Wir hatten eine Zeit lang nicht ausreichend die Kontrolle."

Doch davon will die Kanzlerin nun offenbar nichts mehr wissen. Sie würde alles wieder so machen, wie sie es 2015 getan hat, verkündete sie in jüngster Zeit mehrfach.

Aus Fehlern klug werden? Lebenslang lernen? Was für normale Menschen ein Bildungsprozess ist und für Erwerbstätige die Voraussetzung des Bestehens am Arbeitsmarkt, scheint für den Erfolg als Spitzenpolitiker in Deutschland und Europa nicht relevant zu sein. An der Spitze der Bundesregierung und der Europäischen Kommission kann man ganz offensichtlich auch dann bleiben, wenn man offen zeigt, dass man nichts lernt und aus Erfahrung nicht klüger wird.

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