Dabei spielt auch der Anspruch eine Rolle, ein Vorbild für andere abzugeben. Der Atomausstieg und die Energiewende werden von der Bundesregierung und ihr nahestehenden Medien und Akteuren immer wieder dadurch gerechtfertigt, dass Deutschland der Welt beweisen müsse, dass das möglich sei.
Vermutlich spielte dieses Avantgarde-Motiv auch bei Merkels Entscheidung eine Rolle, den Zustrom von Migranten aus dem Nahen Osten im Herbst 2015 nicht aufzuhalten, sondern anzunehmen. Seither pocht die Bundesregierung darauf, dass die anderen EU-Staaten es Deutschland zumindest tendenziell oder symbolisch – durch „Verteilung“ von Flüchtlingen – gleichtun. Wie der EU-Gipfel in dieser Woche erneut belegte, ist ihr das nicht gelungen.
Von den pragmatischen Universalisten wurde Deutschlands so genannte Flüchtlingspolitik und seine „Willkommenskultur“ nicht offen abgelehnt. Man zieht nur eben nicht konsequent mit. In Frankreich scheint man stillschweigend erleichtert zu sein, dass Deutschland spätestens seit 2015 zum attraktivsten europäischen Land für Armutsmigranten aus Afrika und dem Nahen Osten geworden ist. Und dadurch die eigene Belastung deutlich mindert. Ebenso in Italien, das dank Deutschland einen Großteil der an seinen Küsten Ankommenden über den Brenner weiter „flüchten“ lassen kann.
Auch Viktor Orban weiß wie alle anderen Realisten inklusive vermutlich Merkel selbst, dass die „Verteilung“ von Flüchtlingen ohnehin nicht praktikabel ist. Er könnte es also mit pragmatischem Universalismus bewenden lassen, wenn es ihm nur darum ginge, Belastungen für sein Land gering zu halten. Denn solange die Sozialleistungen und Arbeitsmarktperspektiven in Deutschland und den anderen Lieblingszielländern der Einwanderer derart attraktiv und der staatliche Wille zur Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen derart gering bleibt, kann niemand ernsthaft konsequente Massenverteilungsaktionen Richtung Ungarn oder Polen erwarten.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die meisten Verteilten ohnehin bald wieder dahin gehen, wo sie hinwollen (meist Deutschland) und ihnen dort keine scharfen Sanktionen drohen. De facto entscheiden die Zuwanderer, von welchem Staat sie sich versorgen lassen.
Dennoch setzt Orban auf offenen Widerspruch. Es geht ihm anscheinend ums Grundsätzliche: Er lehnt den von Merkel personifizierten Universalismus offen zu Gunsten des Partikularismus ab. Sein Ungarn, aber auch Polen und Tschechien praktizieren das Primat der Nähe, also den Vorrang des Eigenen vor dem Universellen, nicht nur im Handeln, sondern propagieren es auch offen als politische Leitlinie. Orban, der an intellektuellem Format den anderen großen Partikularisten außerhalb der EU (von Trump bis Putin) nicht nur gewachsen, sondern durchaus überlegen ist, hat sich selbst zum großen Herausforderer des europäischen Universalismus erhoben.
Orban und Merkel, Ungarns Grenzzaun und Deutschlands Willkommenskultur, das sind die Pole zwischen denen die Politik in der EU auf absehbare Zeit stattfinden wird.