Knauß kontert

Die drei zentralen Politiker in der EU

Seite 3/3

Merkel gegen Orban

Dabei spielt auch der Anspruch eine Rolle, ein Vorbild für andere abzugeben. Der Atomausstieg und die Energiewende werden von der Bundesregierung und ihr nahestehenden Medien und Akteuren immer wieder dadurch gerechtfertigt, dass Deutschland der Welt beweisen müsse, dass das möglich sei.

Vermutlich spielte dieses Avantgarde-Motiv auch bei Merkels Entscheidung eine Rolle, den Zustrom von Migranten aus dem Nahen Osten im Herbst 2015 nicht aufzuhalten, sondern anzunehmen. Seither pocht die Bundesregierung darauf, dass die anderen EU-Staaten es Deutschland zumindest tendenziell oder symbolisch – durch „Verteilung“ von Flüchtlingen – gleichtun. Wie der EU-Gipfel in dieser Woche erneut belegte, ist ihr das nicht gelungen.

Von den pragmatischen Universalisten wurde Deutschlands so genannte Flüchtlingspolitik und seine „Willkommenskultur“ nicht offen abgelehnt. Man zieht nur eben nicht konsequent mit. In Frankreich scheint man stillschweigend erleichtert zu sein, dass Deutschland spätestens seit 2015 zum attraktivsten europäischen Land für Armutsmigranten aus Afrika und dem Nahen Osten geworden ist. Und dadurch die eigene Belastung deutlich mindert. Ebenso in Italien, das dank Deutschland einen Großteil der an seinen Küsten Ankommenden über den Brenner weiter „flüchten“ lassen kann.

"Unser Land verträgt keinen Stillstand"
Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG"Unser Land verträgt keinen Stillstand", erklärt VW-Chef Matthias Müller. Es müssten wichtige Entscheidungen für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands getroffen und deshalb schnell klare Verhältnisse geschaffen werden. "Eine Hängepartie können wir uns nicht erlauben." Quelle: dpa
Christoph Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrats ("Die fünf Wirtschaftsweisen")Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, hat angesichts des Scheiterns der Jamaika-Sondierungen vor einem Regierungsbündnis aus ständig miteinander streitenden Parteien gewarnt. "Ein Bündnis, deren Partner sich in den kommenden Jahren vor allem gegenseitig blockieren würden, wäre wohl noch schlechter als eine schleppende Regierungsbildung", sagte Schmidt am Montag. Auch habe der Abbruch der Gespräche für eine Koalition aus Union, FDP und Grünen die Ausgangslage für die deutsche Wirtschaft derzeit kaum verändert. "In jedem Fall sind die negativen Auswirkungen der gescheiterten Jamaika-Sondierungen eher langfristiger als konjunktureller Natur", sagte der Ökonom. Nach wie vor sei die konjunkturelle Lage in Deutschland sehr gut, betonte Schmidt. Die Wirtschaft erlebe einen langen und robusten Aufschwung. Allerdings gebe es mittel- und langfristig große Herausforderungen, wie der demografische Wandel, die Digitalisierung oder die Fortentwicklung der Europäischen Union. Darauf müsse eine neue Regierung Antworten finden. Quelle: dpa
Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts Quelle: dpa
Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer Quelle: REUTERS
Thilo Brodtmann, VDMA-Hauptgeschäftsführer Quelle: VDMA
Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen Quelle: Presse
Matthias Wahl, Präsident des Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) Quelle: PR

Auch Viktor Orban weiß wie alle anderen Realisten inklusive vermutlich Merkel selbst, dass die „Verteilung“ von Flüchtlingen ohnehin nicht praktikabel ist. Er könnte es also mit pragmatischem Universalismus bewenden lassen, wenn es ihm nur darum ginge, Belastungen für sein Land gering zu halten. Denn solange die Sozialleistungen und Arbeitsmarktperspektiven in Deutschland und den anderen Lieblingszielländern der Einwanderer derart attraktiv und der staatliche Wille zur Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen derart gering bleibt, kann niemand ernsthaft konsequente Massenverteilungsaktionen Richtung Ungarn oder Polen erwarten.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die meisten Verteilten ohnehin bald wieder dahin gehen, wo sie hinwollen (meist Deutschland) und ihnen dort keine scharfen Sanktionen drohen. De facto entscheiden die Zuwanderer, von welchem Staat sie sich versorgen lassen.

Dennoch setzt Orban auf offenen Widerspruch. Es geht ihm anscheinend ums Grundsätzliche: Er lehnt den von Merkel personifizierten Universalismus offen zu Gunsten des Partikularismus ab. Sein Ungarn, aber auch Polen und Tschechien praktizieren das Primat der Nähe, also den Vorrang des Eigenen vor dem Universellen, nicht nur im Handeln, sondern propagieren es auch offen als politische Leitlinie. Orban, der an intellektuellem Format den anderen großen Partikularisten außerhalb der EU (von Trump bis Putin) nicht nur gewachsen, sondern durchaus überlegen ist, hat sich selbst zum großen Herausforderer des europäischen Universalismus erhoben.

Orban und Merkel, Ungarns Grenzzaun und Deutschlands Willkommenskultur, das sind die Pole zwischen denen die Politik in der EU auf absehbare Zeit stattfinden wird.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%