Tilman Brück ist Gründer und Direktor des International Security and Development Center (ISDC) in Berlin. Die gemeinnützige Denkfabrik beschäftigt sich mit den ökonomischen Folgen von gewaltsamen Konflikten und dem Faktor Unsicherheit. Brück ist zudem Gastprofessor an der Universität Greenwich; früher war er unter anderem Professor für Entwicklungsökonomie an der Humboldt-Universität Berlin.
WirtschaftsWoche: Herr Brück, die Sanktionen des Westens sorgen für große wirtschaftliche Verwerfungen in Russland. Glauben Sie, dass Wladimir Putin davon beeindruckt ist?
Nein. Es wird in Russland eine schwere Rezession geben, aber ob seine Bürger nun ihre Jobs verlieren oder gar Hunger leiden, ist Putin egal. Das System Putin wird sicher nicht durch einen ökonomischen Crash verschwinden. Der Krieg vergeudet zwar enorme Ressourcen. Aber wenn dem russischen Staat das Geld ausgeht, dann kürzt er eben die Renten oder Sozialleistungen.
Wer oder was kann Putin dann überhaupt stoppen?
Nur das russische Volk, die russische Zivilgesellschaft...
… die Putin gerade niederknüppeln und verhaften lässt, wo sie sich auf die Straße traut.
Ja, es ist ein langer und steiniger Weg. Die russische Führung schreckt vor nichts zurück, auch nicht vor Mord, da ist es für eine Opposition extrem schwer, sich zu formieren. Trotzdem kann der Wandel zu Demokratie und Rechtsstaat nur von der russischen Bevölkerung eingeleitet werden. Putin hat fast die absolute Macht, aber er ist auch verwundbar. Er geht quasi auf großen Stelzen, aber die beginnen zu wackeln, wenn unten einer sägt. Deshalb greift Putin ja gerade derart rabiat gegen Demonstranten durch. Von außen hingegen ist ein Regimewechsel nicht machbar, da sollte sich der Westen keinen Illusionen hingeben.
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Sollte der Westen trotzdem die Sanktionen verschärfen?
Darüber sollten wir nachdenken. Der Westen war über Jahre zu naiv im Umgang mit Putin. Der letzte Schritt wäre nun die totale wirtschaftliche Blockade, ein komplettes Kappen aller Handels- und Finanzströme mit Russland. Dieses Extremszenario ist die schärfste nicht-militärische Waffe des Westens. Putin würde das wahrscheinlich nach innen als neue und – wünschenswerte – Autonomie verkaufen und eine Art Subsistenzwirtschaft aufbauen. Ein Embargo würde aber die Lage der Bürger derart verschärfen, dass es innenpolitisch heikel werden könnte. Putin müsste sich zunehmend um den Machterhalt im Innern kümmern, statt Zeit für Krieg zu haben.
Halten Sie es für denkbar, dass sich Putin mit der Ukraine nicht zufrieden gibt und im nächsten Schritt das Baltikum attackiert?
Ich glaube nicht, dass er dort direkt einmarschiert, es ist ja Nato-Gebiet. Aber Putin wird im Baltikum zündeln, er empfindet die pure Existenz von Estland, Lettland und Litauen als Provokation. Das Baltikum ist für ihn ein Einfalltor für die weitere Destabilisierung des Westens. Putin könnte versuchen, die Bündnistreue der Nato auszuloten, etwa durch Cyberattacken oder durch die Aufstachelung der russischen Minderheit in diesen Ländern durch eingeschleuste Provokateure. Darauf sollten wir uns vorbereiten.
Diese Sanktionen gegen Russland wurden beschlossen
Alle Vermögenswerte der russischen Zentralbank in der EU sind eingefroren, um zu unterbinden, dass damit der Krieg von Kremlchef Wladimir Putin finanziert wird. Transaktionen mit dem Finanzinstitut sind verboten. Nach EU-Angaben wird zusammen mit anderen G7-Staaten rund die Hälfte der Finanzreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Damit soll verhindert werden, dass Moskau die Reserven zur Stützung des Rubel-Wechselkurses nutzt.
Die westlichen Verbündeten haben einen Ausschluss von russischen Banken aus dem Finanz-Kommunikationssystem Swift beschlossen, um diese von den internationalen Finanzströmen abzuklemmen. Am 9. März kappte die EU auch für drei belarussische Banken den Zugang zu Swift. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zufolge wird auch sichergestellt, dass Sanktionen nicht durch die Verwendung von sogenannten Kryptowerten umgangen werden können. Das sind zum Beispiel virtuelle Währungen wie der Bitcoin.
Zudem dürfen mit etlichen Geschäftsbanken keine Geschäfte mehr gemacht werden, ihre Vermögen werden eingefroren. Auch gegen den Handel mit russischen Staatsanleihen wird entschieden vorgegangen.
Auch die USA haben schwerwiegende Sanktionen gegen die russische Zentralbank in Kraft gesetzt. US-Bürgern und Institutionen sind Transaktionen mit der Zentralbank damit verboten, zudem kann die Notenbank damit weltweit keine Geschäfte in US-Dollar mehr durchführen, wie ein ranghoher Vertreter des Weißen Hauses am Montag sagte. Zusammen mit den Sanktionen der Verbündeten sei der Großteil der russischen Devisenreserven im Wert von rund 630 Milliarden US-Dollar nun de facto blockiert und könne von Russland nicht dafür genutzt werden, die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs aufzufangen, sagte er.
Auch der russische Staatsfonds und das Finanzministerium würden mit Sanktionen belegt, erklärte der Beamte. „Unsere Strategie ist es, einfach ausgedrückt, dafür zu sorgen, dass die russische Wirtschaft sich zurückentwickelt – so lange wie Präsident (Wladimir) Putin sich entscheidet, die Invasion in die Ukraine voranzutreiben“, sagte er. Die Sanktionen gegen die Zentralbank seien die bedeutendste Strafmaßnahme der US-Regierung. Ausnahmen gebe es nur für bestimmte Transaktionen, die mit dem Öl- und Gasmarkt zusammenhingen, betonte der Beamte. „Kein Staat ist vor Sanktionen gefeit“, betonte er.
Die beiden weltgrößten Kreditkartenanbieter, Visa und Mastercard, setzten die Geschäfte mit Russland aus. Visa erklärte, man werde alle Transaktionen in den kommenden Tagen einstellen. Danach würden in Russland ausgestellte Karten nicht mehr im Ausland funktionieren. Mastercard äußerte sich ähnlich. Beide Unternehmen hatten bereits vorher keine Transaktionen mehr für russische Banken abgewickelt, die von internationalen Sanktionen betroffen sind.
Die EU verbietet den Verkauf, die Lieferung, die Weitergabe oder die Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien für die Ölveredelung. Auch Dienstleistungen in diesem Bereich werden eingeschränkt. Erklärtes Ziel ist es, Russland Möglichkeiten zur notwendigen Modernisierung seiner Ölraffinerien zu nehmen. Die USA wollen zudem den Import russischen Öls stoppen.
Die EU hat ein Ausfuhrverbot für Güter, Technologien und Dienstleistungen für die Luft- und Raumfahrtindustrie erlassen. „Dieses Verbot des Verkaufs aller Flugzeuge, Ersatzteile und Ausrüstungen an russische Luftfahrtunternehmen wird einen der Schlüsselsektoren der russischen Wirtschaft und die Konnektivität des Landes beeinträchtigen“, heißt es. Drei Viertel der derzeitigen russischen Verkehrsflugzeugflotte seien in der EU, den USA und Kanada gebaut worden.
Der Luftraum über allen EU-Staaten ist für russische Flugzeuge komplett gesperrt. Russlands staatliche Airline Aeroflot und russische Privatflugzeuge dürfen auch in Großbritannien nicht landen. Russischen Schiffen droht zudem ein Einlaufverbot in Häfen in der EU, ein Beschluss hierzu steht jedoch noch aus. In Großbritannien ist ein solches Verbot bereits in Kraft.
Bestimmte Güter und Technologien dürfen nicht mehr ohne weiteres aus der EU und anderen westlichen Ländern nach Russland gebracht werden. Dazu zählen unter anderem Mikroprozessoren oder Ausrüstung, die für die Produktion von Mikrochips benötigt werden. Auch die USA verbieten den Export von Hightech-Produkten nach Russland.
Die Bundesregierung hat die so genannten Hermes-Bürgschaften ausgesetzt und damit deutschen Unternehmen Geschäfte mit Russland erschwert – ganz unabhängig davon, ob es um sanktionierte Güter oder Branchen geht oder nicht.
Die russischen Staatsmedien RT und Sputnik werden in der EU verboten, um die „giftige und schädliche Desinformationen in Europa“ zu untersagen, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erläuterte.
Die EU hat Sanktionen gegen Oligarchen aus dem Umfeld von Russlands Präsident Wladimir Putin in Kraft gesetzt. Damit werden unter anderem ihre Vermögenswerte in der EU eingefroren, wie am Montagabend aus einer Veröffentlichung im EU-Amtsblatt hervorgeht. Zudem wird ihre Reisefreiheit eingeschränkt. Neben Oligarchen sind auch Menschen aus Putins engerem Kreis wie Kremlsprecher Dmitri Peskow von den Massnahmen betroffen. Auch der Cellist und Putin-Vertraute Sergej Roldugin wird genannt. Roldugins Name tauchte bereits früher in der Berichterstattung zu den sogenannten Panama Papers auf. Die Enthüllungen ordneten ihm mehrere Offshore-Firmen zu.
Auf der Sanktionsliste aufgeführt werden zudem der Oligarch und Tui-Grossaktionär Alexej Mordaschow, der enge Putin-Vertraute und Chef des Staatskonzerns Rosneft, Igor Setschin, sowie der Milliardär und Chef der Alfa-Bank, Michail Fridman. Ausserdem genannt werden die Geschäftsleute Alischer Usmanow, Pjotr Aven und Nikolai Tokarew.
Russlands Oligarchen konnten sich bisher darauf verlassen, dass sie und ihr Geld in Europas Metropolen willkommen sind. Nach Putins Angriff auf die Ukraine sind sie jedoch verstärkt in den Blick westlicher Regierungen geraten.
Diplomaten und Geschäftsleute verlieren zudem ihren privilegierten Zugang zur Europäischen Union.
Das US-Präsidialamt kündigt Sanktionen und Visa-Beschränkungen gegen 19 russische Oligarchen, ihre Familien und Verbündete an. Im Kampf gegen Desinformation seien auch sieben russische Einrichtungen sowie 26 Personen, die dort arbeiten, mit Strafmaßnahmen belegt worden, heißt es weiter.
Der Weltsport hat die Reihen noch enger gegen Russland geschlossen. Weitere Weltverbände haben sich dem Aufruf des Internationalen Olympischen Komitees angeschlossen, Russland und Belarus als Sanktion für den Krieg gegen die Ukraine auszuschließen. Dazu gehören unter anderem die Weltverbände im Tennis, Radsport und Ski, die internationale Föderationen für Eiskunst- und Eisschnelllauf, Eishockey sowie Handball- und Volleyballverbände.
Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) wird am Mittwoch, zwei Tage vor der Eröffnung der Winter-Paralympics in Peking, über einen Ausschluss von Russland und Belarus entscheiden. Erst am 2. März sei die IPC-Exekutive vollständig versammelt, teilte der Dachverband dem Branchendienst „insidethegames.biz“ mit. Die ukrainischen Athleten werden trotz Krieges wohl rechtzeitig in Peking eintreffen. Das Team mit 20 Athleten sei auf dem Weg in die chinesische Hauptstadt und könne an diesem Mittwoch ankommen, sagte ein IPC-Sprecher.
Am Dienstagabend gaben der Tennis-Weltverband ITF sowie die Männer-Organisation ATP und die Frauen-Organisation in einer gemeinsamen Stellungnahme bekannt, dass die Tennis-Verbände von Russland und Belarus suspendiert sind. Die Spieler dürfen allerdings weiter bei der Tour oder bei den Grand Slams antreten, sie werden jedoch nicht mehr unter russischer Flagge geführt. So muss auch der neue Weltranglistenerste Daniil Medwedew vorerst keinen Ausschluss befürchten. Ähnlich verfährt der Radsport-Weltverband.
Auch der Leichtathletik-Weltverband schloss sich den Sanktionen an. „Alle Athleten, Betreuer und Offiziellen aus Russland und Belarus werden mit sofortiger Wirkung von allen Veranstaltungen der Leichtathletik-Weltserie ausgeschlossen“, hieß es in einer Mitteilung von World Athletics am Dienstag. Dazu gehören die Hallen-WM im März in Belgrad und die Freiluft-WM im Juli in Eugene/USA sowie die Mannschafts-WM im Gehen in Muscat, die am Freitag in Oman beginnt.
Die Schwimm-Funktionärskollegen der Fina verbannen russische und belarussische Sportler nicht und lassen sie weiter als neutrale Athleten bei internationalen Wettkämpfen starten. Die Teilnahme unter dem Namen Russland oder Belarus sei nicht mehr erlaubt. Russlands Präsident Wladimir Putin wurde aber der Fina-Orden aberkannt.
Russland darf nicht am Eurovision Song Contest (ESC) 2022 in Turin teilnehmen. Zudem hat das Royal Opera House in London die Planungen zu Gastauftritten des weltberühmten Moskauer Bolschoi-Theaters gestoppt. Die deutsche Stiftung Preußischer Kulturbesitz legte die Zusammenarbeit mit russischen Instituten zunächst auf Eis. Und auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) schränkt den wissenschaftlichen Austausch mit Russland ein.
Die Bundesregierung will als Reaktion auf den Krieg ein 100-Milliarden-Sondervermögen zur Modernisierung der Bundeswehr einrichten. Der richtige Weg?
Angesichts der aktuellen Lage: ja. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass Militärausgaben generell hohe Opportunitätskosten haben, wie es in der Ökonomensprache heißt. Das heißt: Die Gesellschaft verzichtet auf den hohen Nutzen einer alternativen Verwendung dieser Finanzmittel, etwa in Bildung, Forschung und Infrastruktur. Außerdem sollte dieses Geld klug und effizient ausgeben werden – und das hat die Bundeswehr in der Vergangenheit ja nicht geschafft.
Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit den ökonomischen Folgen von Konflikten. Wie ist denn der empirische Befund? Zerstörungen führen ja zynischerweise oft zu einer Sonderkonjunktur beim Wiederaufbau...
Aber nur, wenn das betroffene Land über ausreichende finanzielle Mittel für den Wiederaufbau verfügt. Eine Sonderkonjunktur muss man sich leisten können. Viele kriegsbetroffene Staaten, etwa in Afrika, haben das notwendige Geld aber nicht. Kriegsschäden können daher nicht nur einem temporären, sondern auch einen dauerhaften gesellschaftlichen Wohlstandsverlust verursachen. Der Konflikt ist vorbei, aber die Betroffenen leiden weiter. Konkret wirkt ein Krieg auf den Wohlstand der Menschen über die „drei D“: Death, Destruction, Dislocation. Der Konflikt zerstört physisches Kapital, Humankapital, aber auch soziales Kapital wie Vertrauen. Ohne ein Grundvertrauen der Wirtschaftsakteure in innere und äußere Sicherheit, Institutionen und Rechtssystem kann eine Ökonomie nicht gedeihen. Das steht jetzt auch für Deutschland auf dem Spiel.
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