
In den Weihnachtstagen des vergangenen Jahres hat ein Korruptionsskandal die Türkei erschüttert. Allein in den ersten Tagen hatte die Polizei 24 Personen im Zusammenhang mit Schwarzgeldtransfers in den Iran und Bestechung bei Bauvorhaben festgenommen – darunter zwei Ministersöhne und ein Istanbuler Bezirksbürgermeister der Regierungspartei AKP.
Nicht einmal ein Jahr nach Beginn der Untersuchungen ist der Korruptionsfall aus juristischer Sicht abgehakt. Der Fernsehsender CNN Türk zitierte einen Staatsanwalt, der angab, Istanbul habe die Verfahren gegen 53 Verdächtige eingestellt. Der Grund: Es gebe nicht genügend Anhaltspunkte, um rechtliche Schritte gegen diese Personen einzuleiten.
Übersicht der Kritik an Erdogan
2008 steht Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit der Opposition im Konflikt um die geltende Trennung von Staat und Religion. Das Parlament kippt auf Initiative der AKP per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Hochschulen. Daraufhin eröffnet das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Eine Million Menschen demonstrieren in Izmir für eine laizistische Türkei. Das Gericht kippt schließlich die Entscheidung des Parlaments zur Aufhebung des Kopftuchverbots. Das Verbotsverfahren gegen die AKP scheitert 2010 aber knapp an der Stimme eines Richters.
Ein ultranationalistischer Geheimbund namens „Ergenekon“ soll versucht haben, die islamisch-konservative Regierung zu stürzen. Viele der mehr als 270 Beschuldigten müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis - darunter Militärs, Politiker und Journalisten. Der frühere Armeechef Ilker Basbug wird im August 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Protestbewegung gegen die Erdogan-Regierung dauert 2013 wochenlang an. Im Mai räumen Polizisten mit einem brutalen Einsatz ein Protestlager im Istanbuler Gezi-Park. Es folgen weitere Proteste in mehreren Städten - vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten. Mehrere Menschen kommen ums Leben, Hunderte werden verletzt.
Die Türkei wird seit Mitte Dezember 2013 von einem Korruptionsskandal erschüttert. Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf die Familien mehrerer Minister. Erdogan sieht eine Kampagne gegen seine Politik und reagiert mit einer „Säuberungswelle“ in Polizei und Justiz, bei der Hunderte Beamte zwangsversetzt werden. Die AKP setzt zudem eine Gesetzesänderung durch, die dem Justizminister mehr Macht geben soll. Das Verfassungsgericht annulliert allerdings im April 2014 teilweise Erdogans Justizreform.
Das Parlament nimmt im Februar 2014 einen Gesetzentwurf der Regierung für eine verschärfte Internetkontrolle an. Demnach dürfen Behörden Seiten auch ohne richterlichen Beschluss sperren. Erdogans Zorn auf soziale Netzwerke hat sich an auf YouTube veröffentlichten Telefonmitschnitten entzündet. Darin war angeblich zu hören, wie er seinen Sohn auffordert, große Geldsummen vor Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen. Im März wird der Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter gesperrt, das Verfassungsgericht hebt die Regierungsentscheidung aber wieder auf.
Ein Blick auf den 17. Dezember des vergangenen Jahres: Die Polizei stellte beim Chef der staatlichen Halkbank umgerechnet 3,3 Millionen Euro Bargeld in Schuhkartons sicher und verhaftete ihn. Die Staatsanwaltschaft in Ankara ging danach eigenen Angaben zufolge möglichen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Verträgen für Hochgeschwindigkeitszüge nach.
Tausende Polizisten, Richter und Staatsanwälte versetzt
In der Folge traten drei Minister wegen der Verwicklung ihrer Söhne in die Korruptionsermittlungen zurück – ein weiterer wurde von Erdogan entlassen. Im Hause des Sohnes eines der zurückgetretenen Minister wurden 700.000 Euro entdeckt - er wurde verhaftet. Bei den Untersuchungen ging es unter anderem um Schmiergeldzahlungen, illegale Baugenehmigungen und Geldwäsche. Mittlerweile sind die meisten Verdächtigen frei.
Wäre so etwas in Deutschland passiert, gäbe es eine große Regierungskrise und auch Angela Merkel würde ihren Hut nehmen“, sagt Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte an der Universität Duisburg-Essen. Dort hat das Ganze kein Nachspiel - selbst nicht für die Minister. Die sitzen jetzt als Abgeordnete im Parlament. „Solange Erdogan an der Macht ist, müssen sie nichts befürchten.“
Die Justiz wird den 17. Dezember dagegen nicht vergessen. Erdogan hatte die Untersuchungen von Anfang an verurteilt und „internationalen Gruppen“ und „finsteren Allianzen“ vorgeworfen, eine Schmutzkampagne gegen seine Regierung zu führen – auch von einem „Putsch“ durch die Justiz war die Rede. Der Initiator aus Erdogans Sicht: Der derzeit im Exil in den USA lebende Geistliche Fethullah Gülen.
„Von einer unabhängigen Justiz kann nicht mehr die Rede sein.“
Immer wieder sprach Erdogan von der „Gülen-Verschwörung“. „Tatsächlich gibt es viele Befürworter Gülens im Staatsapparat“, sagt Çopur. Die Gülen-Bewegung wollte einen Teil der Macht der AKP. „Heute dient aber diese vermeintliche Verschwörung um Gülen der AKP dazu, um von den Korruptionsskandalen abzulenken und diese zu vertuschen.“
Tausende ranghohe Polizisten – unter ihnen auch der Istanbuler Polizeichef – und hunderte unliebsame Richter und Staatsanwälte wurden über Nacht versetzt – die meisten waren direkt an den Ermittlungen im Korruptionsskandal beteiligt. „Die Versetzungen waren politisch motiviert und ein Putsch gegen die Justiz“, sagt Çopur. Erdogan habe ihn angeordnet und der Justizminister durchgeführt.
Skandal hatte innenpolitisch keine Folgen
Dass die neuausgerichtete Justiz die Ermittlungen nicht fortführt, ist wenig verwunderlich. „Von einer unabhängigen Justiz kann nicht mehr die Rede sein“, so Çopur. Einzig das Türkische Verfassungsgericht leiste noch Widerstand. „Der Großteil der Justiz ist zu einer von der AKP gesteuerten Willkürjustiz geworden.“ Darin sieht er vor allem eine Gefahr für die Demokratie, die ohne einen funktionierenden Rechtsstaat nicht existenzfähig sei.
Als der Korruptionsskandal publik wurde, forderten hunderte Demonstranten den Rücktritt der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan. Die Polizei reagierte mit Tränengas und Wasserwerfern. Jetzt, wo klar ist, dass der Skandal keine Konsequenzen hat - passiert nichts. „Mittlerweile sind die Bürger wenig verblüfft und überrascht und die Opposition ist zu schwach. Die Regierungskritiker befinden sich in einer tiefen Depression und Verzweiflung“, sagt Çopur.
Und das, obwohl Erdogan selbst tief in den Skandal involviert ist. Einem Telefonmitschnitt zufolge, der mittlerweile nicht mehr bei Youtube zu finden ist, soll er seinen Sohn Bilal aufgefordert haben, 30 Millionen Euro vor Korruptionsermittlern zu verstecken.
Geschadet hat Erdogan das alles nicht – zumindest innenpolitisch. Außenpolitisch habe die Türkei durch ihre verfehlte Politik gegenüber dem Islamischen Staat einen großen Image-Schaden erlitten. Siegessicher kandidierte sie um einen Platz als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Die Staatengemeinschaft ließ die Türkei abblitzen. „Wenn ein Land keine internationale Unterstützung mehr bekommt, ist das ein Indiz dafür, dass es sich außenpolitisch zunehmend isoliert.“
Noch gibt es keine großen wirtschaftlichen Krisen. . Das muss aber nicht zwangsläufig so bleiben, denn in einer „Willkürjustiz“ wie der türkischen, hätten internationale Investoren nicht mehr die Sicherheit, Geld anzulegen, erklärt Çopur.