Krieg in der Ukraine „Bisher spielte Asyl keine Rolle – das wird sich radikal verändern“

Erste Hilfe nach der Flucht: In der ungarischen Grenzstadt Zahony werden Ukrainer von Unterstützern empfangen. In den nächsten Tagen werden zehntausende Menschen erwartet, die vor dem Krieg in ihrer Heimat fliehen.   Quelle: dpa

Zehntausende Menschen sind in der Ukraine auf der Flucht. Neben humanitärer Hilfe geht es auch um Integration. Weshalb die Westbalkanregelung Vorbild sein könnte, erklärt Ökonom Herbert Brücker.     

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Der Ökonom Herbert Brücker leitet den Forschungsbereich „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin.

WirtschaftsWoche: Herr Brücker, Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Angriff auf die Ukraine befohlen, Reporter und Reporterinnen berichten von Raketenangriffen auf mehrere Städte, von langen Schlangen auf den Autobahnen um die Hauptstadt Kiew. Beginnt nun eine große Fluchtbewegung, auch nach Deutschland?
Herbert Brücker: Wie in jedem Krieg müssen wir erwarten, dass die Migration stark ansteigt. In welchem Umfang kann aber noch niemand seriös quantifizieren. Wir können auch nicht mit Sicherheit sagen, wie sich diese Fluchtbewegung verteilen wird. Am Anfang wohl erst einmal auf die Nachbarstaaten und Länder, wo schon viele Menschen aus der Ukraine leben: Polen, Tschechien und die Slowakei spielen da eine große Rolle, auch Italien, dort arbeiten viele ukrainische Pflegekräfte. Dann kommt es darauf an, welche Bedingungen die Flüchtenden dort vorfinden – auch materieller Art.

Und wenn die schlecht sind, suchen Menschen nach Alternativen?
Es kann sehr gut sein, dass regionale Migrationsstrukturen der Vergangenheit nicht stabil bleiben und Menschen in reichere EU-Länder weiterwandern. Für Ukrainer besteht keine Visumspflicht in der EU, sie können in jeden Mitgliedsstaat fahren und sich dort 90 Tage aufhalten. Das ist eine völlig andere Situation als bei anderen Geflüchteten, die keine Visumsfreiheit haben. Bisher hat das Thema Asyl für Menschen aus der Ukraine in Deutschland kaum eine Rolle gespielt. Ich gehe davon aus, dass sich das radikal verändern wird. Denkbar ist, als Tourist einzureisen und dann einen Asylantrag zu stellen.

Man kann sich den Aufschrei vorstellen, der da von politisch rechten Kräften zu erwarten ist. Aber muss die Entwicklung als solche, den Ursprung ausgeklammert, eine schlechte Entwicklung sein? Die Bundesrepublik hat große demografische Probleme.
Zunächst einmal geht es um ein humanitäres Problem. Nicht zuletzt die Erfahrungen des Jahres 2015 haben gezeigt, dass die einseitige Belastung der Staaten an den Außengrenzen das europäische Asylsystem gefährdet. Es ist darum sinnvoll, die Geflüchteten nicht nur auf die unmittelbaren Nachbarstaaten der Ukraine, sondern fair auch auf andere Mitgliedsstaaten zu verteilen. Ökonomisch gesehen, aber auch aus sozialer Perspektive, sollten wir, wenn Menschen tatsächlich dauerhaft fliehen, alles dafür tun, dass ihre Integration so gut wie möglich verläuft.

Was hat Deutschland in den Jahren seit 2015 gelernt: Wie kann das gelingen?
Wir sind heute sicher besser aufgestellt. Asylverfahren wurden enorm beschleunigt. Es geht auch diesmal darum, so schnell wie möglich Rechtssicherheit herzustellen. Alles, was wir aus der Fluchtmigration von 2015 gelernt haben, gilt es anzuwenden – und am besten schnell.

Was heißt das genau?
Es ist immer schwieriger, Geflüchtete zu integrieren, da sie, anders als Arbeits- oder Bildungsmigranten, sich nicht gezielt auf die Veränderungen vorbereitet haben. Zum Beispiel werden die meisten kein Deutsch sprechen. Es geht daher um schnellen Zugang zu Sprachförderung und natürlich auch zum Arbeitsmarkt, auch um eine gute Arbeitsvermittlung. Es geht schließlich auch darum, die Möglichkeiten zum Erwerb weiterer Bildungsabschlüsse zu öffnen, und, im Fall von Menschen aus der Ukraine besonders wichtig, Anpassungsqualifikationen zu erleichtern.

Sprache, Arbeit, Weiterbildung, Unterstützung: So macht man aus Flüchtlingen Einwanderer und Fachkräfte?
Das allgemeine Bildungsniveau in der Ukraine ist hoch. Menschen mit ukrainischem Pass sind ähnlich wie andere Ausländer, Menschen mit einem entsprechenden Migrationshintergrund, von denen viele heute deutsche Staatsbürger sind, deutlich besser als der Durchschnitt der Migrantinnen und Migranten in den deutschen Arbeitsmarkt integriert.  Das wird wohl auch künftig so bleiben. Trotzdem wird es nicht so sein, dass ausschließlich die Leute nach Deutschland kommen, auf die wir wegen des Fachkräftemangels so händeringend warten. Geflüchtete brauchen bei gleicher Qualifikation länger als andere Migrantinnen und Migranten, bis sie in den Arbeitsmarkt integriert sind und verursachen darum zunächst auch Kosten für die Sozialsysteme. Mittelfristig bin ich aber optimistisch, dass die Integration funktioniert und wir durch die Einwanderung aus der Ukraine auch gewinnen können.

Wäre es da nicht denkbar und womöglich sinnvoll, die Menschen aus dem Asylsystem zu nehmen und ihnen einen Aufenthaltsstatus zu geben, mit dem sie direkt arbeiten können?
Natürlich gibt es im Asylverfahren institutionelle Barrieren, die Integration zumindest verlangsamen. Wir haben in Deutschland die Westbalkanregelung, mit der Menschen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien in der Bundesrepublik arbeiten können, wenn sie eine Arbeitsplatzzusage haben – ohne dass sie einen anerkannten Abschluss oder eine bestimmte Qualifikation nachweisen müssen. Das funktioniert ökonomisch sehr gut. Es wäre denkbar, einen ähnlichen Weg für Geflüchtete aus der Ukraine zu öffnen: Wer einen Job findet, bekommt eine Aufenthaltserlaubnis. Ob als Spurwechsel aus dem Asylsystem oder als Alternative dazu, gilt es zu überlegen. Es sind politische Entscheidungen gefordert, um die Integration zu erleichtern.

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