Krieg in der Ukraine Die bange Frage lautet: Wo stoppen Putins Panzer?

Unsere Hoffnung auf Frieden und Abrüstung ist dahin, zurückgekehrt ist die Logik des Kriegs als Folge mangelnder Abschreckung. Wir müssen anfangen, das Undenkbare zu denken und uns auf alles vorbereiten. Quelle: Reuters, imago images

Die „hirntote“ Nato ist unsere einzige Lebensversicherung. Wenn das westliche Bündnis Putin nicht mehr abschrecken kann, ist auch das Baltikum in Gefahr. Der Westen darf keine Zweifel mehr an seiner Entschlossenheit zulassen. Ein Kommentar.

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Wir haben es nicht wahrhaben wollen. Jahrelange Diplomatie, Verhandlungen, Gespräche in allen möglichen Formaten, Beschwichtigungen – es hat alles nichts genutzt. Wladimir Putin hat schon in Georgien und bei der Annexion der Krim gezeigt, dass ihm Verträge und internationales Recht völlig egal sind. Der russische Präsident droht nicht nur, er schießt auch. Und wer jetzt beim Aufmarsch an der ukrainischen Grenze noch die zynische Hoffnung hegte, dass der Worst Case die Einnahme der beiden russisch dominierten Ostprovinzen Donezk und Luhansk sein würde, der sieht sich bitter getäuscht. Putin geht aufs Ganze, er will die gesamte Ukraine besetzen, einen souveränen Staat mit einem Krieg in die Knie zwingen und ihn seinem kruden Geschichtsbild folgend in den russischen Machtbereich eingliedern.

Der Westen muss sich eingestehen, dass er nicht gegenhalten kann – und das auch nicht will. Wirtschaftssanktionen ja, militärischer Beistand nein. Die Politik übt sich in Empörungsroutine, während wir fassungslos hinnehmen müssen, dass es mitten in Europa wieder einen Krieg gibt. So ängstlich wie ohnmächtig schauen wir dem Gräuel in der Ukraine zu. Der Westen ist machtlos, er konnte den Krieg weder verhindern, noch kann er ihn jetzt beenden.

Bis wohin fliegen russische Raketen?

Die bange Frage, die sich Europa und die Nato-Staaten jetzt stellen, ist so einfach wie furchterregend: An welchem Punkt werden die russischen Panzer ihren Vormarsch stoppen, bis wohin lässt Putin seine Raketen fliegen? Anders gefragt: Was kommt als nächstes?
Die größten Sorgen machen sich, leider völlig zu Recht, die baltischen Staaten. In Lettland, Litauen und Estland leben starke russischstämmige Minderheiten. Putin lässt ihnen seit Jahren unter der Hand russische Pässe zukommen. Die Regierungen in Vilnius, Riga und Tallin schauen dem Treiben zu, ohne etwas unternehmen zu können.

Auch das Baltikum ist Putins historischem Zerrbild zufolge ein Teil des russischen Reichs, angefangen vom Zaren über die Sowjetunion bis heute. Wir wissen nicht, ob Putin wirklich paranoid ist, wie zuletzt einige seiner Gesprächspartner erkannt zu haben glauben. Aber wir sehen, dass er unberechenbar und brutal zugleich ist. Und wir können seinen zunehmend wirren Reden entnehmen, dass er sich in der Tradition der Zaren sieht und deshalb die Mission verfolgt, Russland wieder zu alter Größe zu führen – offenbar um jeden Preis.

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Auch um das Baltikum herum lagern russische Truppen. Anders als bei der Ukraine würde ein Angriff dort den Bündnisfall bedeuten, das heißt die militärische Beistandspflicht aller Nato-Staaten, und damit den dritten Weltkrieg auslösen.

Schwache Bundeswehr

Es kann nur die Furcht vor der Stärke der Nato sein, die Putin davon abhält, auch das Baltikum zu annektieren. Doch wie groß ist seine Furcht? Ist das westliche Verteidigungsbündnis stark genug, um ihm Angst zu machen, ihn abzuschrecken? Deutschland und eine Reihe anderer Mitgliedsstaaten weigern sich seit Jahren beharrlich, entsprechend dem Zwei-Prozent-Ziel einen vertraglich vereinbarten Beitrag zu den Verteidigungsanstrengungen zu leisten. Unsere Bundeswehr ist inzwischen bestenfalls zur Hälfte einsatzfähig, wie die militärische Spitze selbst einräumt. Und es sah bislang nicht so aus, als ob SPD, Grüne und auch FDP bereit wären, daran etwas wesentliches zu ändern. Es gibt viel Streit innerhalb der Nato, viele divergierende Ziele. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat das Bündnis deshalb vor nicht allzu langer Zeit einmal als „hirntot“ bezeichnet. Die entscheidende Frage lautet jetzt: Fürchtet sich Putin vor einem „hirntoten“ Gegner?

Nachkriegsordnung ist zerstört

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Der Einmarsch in die Ukraine markiert eine historische Zäsur. Die Nachkriegsordnung und die im Zuge der deutschen Einheit neu geschaffene Sicherheitsarchitektur in Europa ist von Putins Panzern zerstört worden. Unsere Hoffnung auf Frieden und Abrüstung ist dahin, zurückgekehrt ist die Logik des Kriegs als Folge mangelnder Abschreckung. Wir müssen anfangen, das Undenkbare zu denken und uns auf alles vorbereiten. Wer wie Putin seinen ärgsten Kritiker vor den Augen der Welt zu vergiften versucht und jetzt Millionen Menschen mit Tod und Leid überzieht, der ist zu allem fähig. Leider ist die „hirntote“ Nato unsere einzige Lebensversicherung. Wir sollten das nicht so stehen lassen.

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