Kurt Biedenkopf "Der Westen ist nicht mehr weit vom Chaos entfernt"

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"Die Volksweisheit weiß: Not macht erfinderisch"

Der Finanzsektor ist durchaus am volkswirtschaftlichen Wachstum interessiert. 

Soweit sich aus dem Wachstum ständige Umschichtungen unternehmerischer Einheiten ergeben ist der Finanzsektor in Gestalt des Investmentbankings durchaus interessiert. Nicht immer handelt es sich dabei jedoch um einen Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum.

Eine Volkwirtschaft muss also eigentlich nicht unbedingt stetig wachsen, wie es in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre steht?

Ich frage mich schon lange zweierlei:
1. Warum predigen uns selbst Nobelpreisträger der Ökonomie, weiteres nachhaltiges Wachstum sei unverzichtbar? Sie wissen doch, dass das empfohlene Wachstum nach einer exponentiellen Kurve verläuft – ebenso wie die Schulden, mit denen wir es finanzieren. Ein exponentieller Verlauf – immer schneller, immer mehr – ist instabil. Er endet in Zusammenbrüchen, nicht nur von Banken.
2. Warum empfehlen sie uns eine ständig wachsende Geldvermehrung durch Geldschöpfung mit dem Versprechen, dass dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen werden?

Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen

In Deutschland haben derzeit mehr Menschen  als je zuvor einen Arbeitsplatz, obwohl das BIP kaum wächst. Angeblich sollen die Schulden zu einem Wachstum des BIP führen, aus dem dann die entstandenen Schulden zurückgezahlt werden können. Aber aus mehr Geld wird nur mehr Arbeit entstehen, wenn sich genug unternehmende Menschen finden, die in der Lage sind, Arbeit zu schaffen. Was muss geschehen, dass sie gefunden und motiviert werden?

Käme einer Gesellschaft, deren Wirtschaft nicht mehr wächst, nicht auch jegliche Dynamik abhanden?

Die Frage beschränkt die Antwort auf die Annahme, dass Menschen nur innovativ werden, wenn alles wächst und das Geld extrem billig ist. Die Volksweisheit weiß: Not macht erfinderisch. Meine Zuhörer sind oft irritiert, wenn es um das Wachstum geht. Ich frage sie dann, ob sie schon mal im Wald waren. Klar. Wächst da was? Natürlich. Warum wird der Wald dann nicht immer größer? Weil alles wächst und wieder vergeht, das Gesetz der Natur. Dieses Gesetz vom Wachsen und Vergehen wird in der Wirtschaft ausgeklammert. In Wirklichkeit kann eine Gesellschaft wachsen: durch Intelligenz, durch kulturelle Weiterentwicklung oder durch die Steigerung ihrer Produktivität. Aber immer geht es um Wachstum der Intelligenz, um unser Produzieren intelligenter und mit weniger Rohstoffen und Energie zu organisieren, statt um die einfache Vermehrung von Gütern und Dienstleistungen.

Ein gewichtiges Argument für die Notwendigkeit weiterer Steigerung des BIP ist die Bewahrung der inneren Stabilität unserer Gesellschaft. 

Es ist nicht nur fragwürdig, sondern gefährlich, dass wir in der westlichen Welt die Stabilität unserer gesellschaftlichen Strukturen, unserer Sozialsysteme und den inneren Frieden von der ständigen Steigerung unseres Konsums abhängig machen. Exponentielle Entwicklungen, wie unsere Wachstumskurve, können alleine kein Gleichgewicht finden – ebenso wie durch Wettbewerb allein keine Integration bewirkt wird. Früher oder später verliert die Gesellschaft die Kontrolle über derartige eindimensionale  Entwicklungen. Wann die Instabilität politisch wirksam wird, weiß man genauso wenig, wie man weiß, wann der Zustrom von Einwanderern die Absorptionsfähigkeit eines Landes überschreitet. Beides führt dann aber nicht zu einem kontrollierten Gleichgewicht, sondern dazu, dass sich der Aggregatzustand einer Gesellschaft, also deren grundlegende Befindlichkeit, ändert. Diese Veränderung findet in einer Chaos-Phase statt, in der zunächst niemand weiß, wo er hingehört, was er zu tun hat, wie die bekannte Ordnung aufrecht erhalten werden kann und welche Gestalt die neue Ordnung haben wird. Es gerät eben alles aus den Fugen. Der Westen ist von diesem Zustand nicht mehr sehr weit entfernt. Und mit weiterer Geldvermehrung wird er nicht stabilisierbar.

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