Landesporträt „Ohne den IWF wäre die Ukraine längst bankrott“

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Fünf Euro für ein Glas Nutella

Das Durchschnitteinkommen liegt derzeit bei 260 Dollar. 40 Prozent davon müssen die Bewohner für Wohnnebenkosten wie Strom, Wasser und Gas zahlen. Einen Wohnungsmarkt wie in Deutschland gibt es nicht, weil die Wohnungen nach dem Zerfall der Sowjetunion an die Bewohner überschrieben wurden. Doch die Gehälter reichen nur knapp zum leben. Denn die Lebensmittelpreise sind vergleichbar mit denen in Deutschland. „Grundlebensmittel wie Brot und Milch sind günstig. Doch alles, was importiert wird, kostet unglaublich viel“, erklärt Röthig. „Ein Glas Nutella unter fünf Euro gibt es selten.“

Auch der Wechselkurs zum Euro hat sich radikal verschlechtert. Während vor vier Jahren noch zehn Hrywnja (UAH) einen Euro wert waren, müssen Ukrainer heute dreimal so viel Geld auf den Tisch legen. „Da bringt ihnen auch das Assoziierungsabkommen und die Reisefreiheit in die EU wenig. Denn eine Reise in die EU kann sich niemand leisten.“

Die Inflationsrate liegt mit zehn Prozent überdurchschnittlich hoch. Der Leitzins liegt sogar bei 18 Prozent. „Da nimmt niemand mit Verstand einen Kredit auf“, so Röthig. Damit sind auch mögliche Anreize für Investitionen und Firmengründungen sehr gering. Die Hoffnung liegt bei ausländische Firmen und Investoren. Doch angesichts der politischen Lage und Verstrickungen mit Russland, meiden viele die Region.

Vorsicht bei Abschlüssen mit Auszeichnung

Ein paar Positivbeispiele gibt es aber: Nach dem Assoziierungsabkommen mit der EU haben sich im Westen des Landes einige wenige Automobilzulieferer wie die Firma für Antriebstechnik Leoni und Eurocar, einer Marke der Volkswagen AG, angesiedelt oder Standorte ausgebaut. Sie profitieren von den niedrigen Löhnen und dem technischen Know-how der Bevölkerung. Doch aus Sicht der ukrainischen Bevölkerung ergeben sich nur wenig Vorteile.

Die stärksten Wirtschaftszweige der Ukraine sind die Industrie, der Einzelhandel, die Gastronomie und die Landwirtschaft. Die Transformation hin zu mehr Dienstleistung schreitet in dem industriell und landwirtschaftlich geprägten Land nur langsam voran.

Doch die Wirtschaft erholt sich langsam. Dieses Jahr rechnet die „Deutsche Beratergruppe“, einer Unternehmensberatung speziell für die Region, mit einem Wirtschaftswachstum von drei Prozent.

Doch ob diese Entwicklung nachhaltig ist, bezweifelt Röthig. Denn der Rechtsstaat ist durchdrungen von Korruption. Das zeigt sich schon in kleinen alltäglichen Dingen. Studenten können ihren Arbeiten ein paar Geldscheine beifügen. „Damit verbessern sie zuverlässig das Ergebnis“, sagt er. Ähnlich ist es bei einem Arztbesuch. Theoretisch ist die medizinische Versorgung, wie noch zu Zeiten der Sowjetunion, kostenlos. Wer aber ohne ein paar Dollar extra zum Arzt geht, bekommt eine schlechte oder gar keine Behandlung. Und wem das nötige Kleingeld fehlt, der muss auf seine Familie hoffen. Oder ist aufgeschmissen.

Alexander und Svetlana Piletska sehen der Entwicklung mit Schrecken zu. Wie viele andere überlegen auch sie zwischendurch auszuwandern. Doch noch gehe es ihnen gut. Er macht gutes Geld mit seinen Geschäften in Polen. Sie verdient als selbstständige Friseurin 400 Euro monatlich und liegt damit über dem Durchschnitt. Sie können ihre Familien unterstützen, sich schöne Dinge und auch mal einen Urlaub leisten. „Aber wenn es so weitergeht, müssen wir weg“, sagt Alexander.

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