Leere Supermarktregale „Pingdemic“ oder Brexit? Warum den Briten die Lkw-Fahrer ausgehen

In vielen britischen Supermärkten waren zuletzt leere Regale zu finden. Quelle: dpa

In vielen britischen Supermärkten bleiben wegen eines massiven Mangels an Lkw-Fahrern zahlreiche Regale leer. Die Branche überbietet sich mit Anreizen für neue Fahrer. Wie konnte es dazu kommen?

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In vielen britischen Supermärkten sieht es seit einigen Wochen wieder so aus wie zu Beginn der Pandemie: Im ganzen Land bleiben viele Regale leer, es kommt zu immer mehr Engpässen. Besonders oft fehlt es an Obst und Gemüse, Brot und Frischfleisch. Und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht.

Glaubt man den regierungsfreundlichen Medien des Landes, dann ist daran vor allem ein Phänomen schuld, das in der britischen Berichterstattung den Beinamen „Pingdemic“ erhalten hat: Wegen der starken Verbreitung des Coronavirus' sind in den vergangenen Wochen Millionen von Briten aufgefordert worden, sich wegen eines Kontakts mit einer positiv getesteten Person in die Selbstisolation zu begeben. Und tatsächlich haben die daraus resultierenden Personalengpässe zu Schwierigkeiten im gesamten Land geführt.

Diese Sichtweise passt auch zu dem Weltbild, das Teile der britischen Konservativen ergriffen hat. Demnach ist das schlimmste an der Pandemie offenbar nicht die hohe Zahl der Todesopfer – in Großbritannien offiziell über 130.000 –, sondern die Versuche, die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen.

In Wirklichkeit dürfte eine ganze Reihe von Gründen zu den Engpässen im gesamten Land beigetragen haben. Allen voran: der Brexit. Laut dem Spediteursverband Road Haulage Association (RHA) spielt der Anfang des Jahres vollzogene EU-Austritt eine zentrale Rolle bei dem Umstand, dass derzeit geschätzt 100.000 der 300.000 Lkw-Posten im Land unbesetzt sind. „Der Fahrermangel war bereits kritisch, da viele Fahrer aus der EU aus offensichtlichen Brexit-bezogenen Gründen nach Hause gegangen sind“, schrieb der Verband in einer Erklärung. Hinzugekommen seien covidbedingte Rückstände bei der Ausbildung neuer Lkw-Fahrer und Maßnahmen gegen die in Großbritannien weit verbreitete Scheinselbständigkeit, die dazu geführt hätten, dass sich viele Fahrer andere Jobs gesucht hätten.

Kam es in der Vergangenheit zu Engpässen, haben britische Spediteure oft kurzfristig Fahrer aus Osteuropa ins Land geholt, um die Lücken zu schließen. Das ist heute nicht nur wegen der Pandemie nicht mehr möglich: Seit Anfang des Jahres gibt es ein „punktbasiertes“ Einwanderungssystem, das bewusst so gestaltet worden ist, um EU-Bürger aus vergleichsweise niedrig vergüteten Berufen außer Landes zu halten. Es gibt zwar eine Liste mit dringend benötigten Fachkräften, wie etwa Krankenschwestern, für die Ausnahmen gelten. Lkw-Fahrer finden sich auf dieser Liste bislang jedoch nicht. Abgesehen davon: Wieso sollten sich Arbeiterinnen und Arbeiter aus der EU in ein schwieriges, kostspieliges und unsicheres, britisches Visavergabe-System begeben, wenn sie in EU-Ländern wie Deutschland und Frankreich schneller und einfacher Arbeit finden können.

Bislang ignoriert London auch sämtliche Aufrufe aus der Wirtschaft, bei Lkw-Fahrern eine Ausnahme zu machen und so schnell wie möglich viele von ihnen ins Land zu holen, um die Engpässe zu überbrücken. Offenbar möchte sich Boris Johnsons Regierung nicht die Blöße geben, den bislang einzigen greifbaren „Vorzug“ des Brexit aufzugeben – die stärkere Kontrolle der Einwanderung.

Verkehrsminister Grant Shapps erklärte stattdessen, die Industrie müsse „langfristige Lösungen“ finden, um den Fahrermangel zu bewältigen. Er erhöhte die gesetzlich gestatteten, wöchentlichen Arbeitszeiten für Lkw-Fahrer und kündigte beschleunigte Prüfungsverfahren an. Gewerkschaften und Industrieverbände wiesen sogleich auf das erhöhte Unfallrisiko hin, das mit der Lockerung der Arbeitszeiten einhergehe. RHA-Chef Richard Burnet sagte, es sei keine Lösung, den ohnehin schon erschöpften Fahrern zusätzliche Arbeitsstunden aufzubrummen. „Das Problem erfordert mehr als nur ein Heftpflaster.“

Arbeitgeber überbieten sich unterdessen gegenseitig, um sich neue Fahrer zu sichern oder um zu verhindern, dass Fahrer abgeworben werden. Durch Zeitarbeitsfirmen vermittelte Fahrer verdienten Berichten zufolge Anfang des Jahres im Schnitt noch 350 Pfund am Tag. Heute sollen es bis zu 800 Pfund sein. Daher hat der deutsche Discounter Aldi kürzlich die Löhne seiner britischen Lkw-Fahrer aufgestockt. Um wie viel, gab die Supermarktkette nicht bekannt. Der Aldi-Webseite zufolge lag der Stundenlohn vor der Erhöhung bei bis zu 15,34 Pfund tagsüber und 18,41 Pfund für Nachtschichten.

Aldi ist indes nicht der einzige Supermarkt, der mit Lockaktionen versucht, Fahrer anzulocken. Tesco bietet etwa neuen Fahrern Berichten zufolge einen Einstellungsbonus in Höhe von 1000 Pfund an. John Lewis Partnership, zu dem unter anderem die Supermarktkette Waitrose gehört, bietet Pakete an, die neuen Fahrern Vorzüge von bis zu 5000 Pfund bringen können. Einige Arbeitgeber locken auch damit, dass sie die Kosten für den Lkw-Führerschein übernehmen. Diese liegen bei etwa 2000 Pfund. Mehrere Supermarktketten haben zudem als Reaktion die Preise für Abholungen von Waren bei Lieferanten erhöht, um die gestiegenen Kosten aufzufangen.

Vielen Besitzern kleinerer Geschäfte bleibt unterdessen nichts anderes übrig, als sich selbst an das Steuer eines Lkws oder Lieferwagen zu setzen, um ihre Regale zu füllen. Branchen-Internetforen sind voll von Geschichten, auf denen sich Händler über ihre verzweifelten Versuche austauschen, ihre Geschäfte am Leben zu erhalten.

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Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Industrievertreter glauben, dass sich das Problem Ende des Jahres weiter verstärken könnte. „Es wurde von der ‚Pingdemic‘ verdeckt, aber das war eher das oberflächliche als das langfristige Problem“, erklärte Shane Brennan, Chef des Verbandes Cold Chain Federation. Das langfristige Problem sei ein „chronischer Mangel an Fahrern“ auf jeder Stufe der Versorgungskette. „Wir haben während der Pandemie einen massiven Exodus von nicht-britischen Arbeitskräften gesehen und wir wissen nicht, ob sie zurückkommen können.“

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