Liz Truss Diese Premierministerin ist aus der Zeit gefallen

Umstrittene Premierministerin: Liz Truss inszeniert sich als Thatcher-Nachfolgerin und setzt auf wirtschaftspolitische Konzepte aus längst vergangenen Tagen. Quelle: AP

Liz Truss inszeniert sich als Thatcher-Nachfolgerin und setzt auf umstrittene wirtschaftspolitische Konzepte aus der Vergangenheit. Dabei haben sich die Briten schon lange in eine ganz andere Richtung bewegt. Ein Kommentar.

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Die britische Öffentlichkeit ist in den vergangenen Jahren merklich zusammengerückt: Die Coronapandemie, der Krieg in der Ukraine und die Trauer, die der Tod von Königin Elizabeth II. bei vielen auslöste, haben die Briten wieder stärker zusammengebracht. Also eine Gesellschaft ein Stück weit versöhnt, die das langjährige Brexit-Gerangel spürbar zerrüttet hatte. Raffgier und Turbo-Individualismus gelten im Mutterland des Kapitalismus zunehmend als Relikte aus der Vergangenheit. Studien zeigen, dass sich die Mehrzahl der Menschen in Großbritannien heute sowohl in ihren wirtschaftlichen Ansichten als auch gesellschaftlich links der politischen Mitte verortet.

Bloß: Diese Information hat Liz Truss offenbar nie erhalten. Großbritanniens neue Premierministerin drängt dem Land gerade einen dermaßen rechtslastigen Kurs auf, dass einem schwindelig werden kann. Überraschend ist das nicht. Schon seit Jahren zeichnet Truss von sich das Bild der entschlossenen Thatcher-Anhängerin. Dabei ging sie bisweilen so weit, dass sie sich wie ihr Vorbild verkleidete und auf Fotos bekannte Posen der „Eisernen Lady“ nachstellte.

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Dabei beließ sie es nicht. Seit ihrem Amtsantritt holte Truss einige von Thatchers politischen Vorstellungen der 1980er-Jahren aus der Versenkung. Damit hat sie ihre konservative Partei nicht nur über Nacht wirtschaftspolitisch weiter rechts positioniert als alle anderen großen politischen Parteien in Industrienationen, wie eine Analyse der Financial Times von Parteien in 61 Staaten zeigt. Mit ihrem Kurs, für den sie nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Partei eine Mehrheit hat, hat sie binnen kürzester Zeit immensen Schaden angerichtet.

Angetrieben von dubios finanzierten libertären Thinktanks und Hedgefonds und flankiert von ihrem Schatzkanzler Kwasi Kwarteng, einem libertären Eiferer, warf Truss jegliches wirtschaftspolitisches Maß über Bord. Damit zerriss sie den Gesellschaftsvertrag, der die Grundlage aller westlichen Demokratien bildet. Truss kündigte rigorose Steuersenkungen an, von denen vor allem Reiche und Unternehmen profitieren würden.

Dabei gilt die zugrunde liegende Theorie vom „Trickle-down-Effekt“ nicht nur schon lange als widerlegt. Die milliardenschweren Steuergeschenke sollten auch noch auf Pump finanziert werden. Eine unabhängige Analyse der Pläne durch die Haushaltswächter vom Office for Budget Responsibility (OBR) hielt Schatzkanzler Kwarteng zurück.

Die Folge: An den Finanzmärkten brach Chaos aus, das Pfund stürzte zeitweise auf einen historischen Tiefststand und die Bank of England musste Milliarden in den Markt für Staatsanleihen pumpen, um einen ausgewachsenen Finanzcrash wie 2008 zu verhindern.

Dann geschah, zumindest für einige Zeit: nichts. Truss und Kwarteng wollten die Krise offenbar aussitzen. Nach mehreren Tagen nahm die angeschlagene Premierministerin die Ankündigung in holprigen Interviews in Schutz. Erst, als sie die Kritik aus ihrer eigenen Partei nicht länger ignorieren konnte, ruderte Truss teilweise zurück und zog die geplante Abschaffung des Spitzensteuersatzes in Höhe von 45 Prozent zurück. Profitiert hätten von der Maßnahme ohnehin nur die rund 600.000 Personen mit jährlichen Einkommen über 150.000 Pfund. Was für ein Fiasko.

Truss und Kwarteng: Nichts gelernt

Gelernt haben Truss und Kwarteng aus ihrem folgenschweren Patzer aber offenbar nichts. Denn an ihren übrigen Steuersenkungsplänen halten sie weiter fest. Und es wird zunehmend klar, wie die finanziert werden sollen: durch Kürzungen bei den öffentlichen Diensten und den Sozialausgaben.

Auch diese Idee ist alles andere als neu – und galt ebenfalls als abgehakt. 2010 reagierten der konservative Premier David Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne auf die tiefe Rezession nach dem Finanzcrash, indem sie die Ausgaben radikal zurückfuhren und Steuern senkten. Das sollte das Vertrauen in die Wirtschaft stärken, einen Aufschwung herbeiführen und das Defizit beseitigen.



Das Gegenteil trat ein: Der Ausgabenstopp erstickte die aufkeimende Konjunktur und verlängerte die Erholung von der Finanzkrise um Jahre. Öffentliche Dienste im gesamten Land wurden an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt, vielen Kommunen drohte die Pleite. Das Gesundheitssystem wurde nachhaltig beschädigt. Die Produktivität und das durchschnittliche Einkommensniveau britischer Beschäftigter stagnierten – außen im reichsten Fünftel der Gesellschaft, wo sich der Wohlstand vergrößerte. Das erklärte Ziel, ein ausgeglichener Haushalt, wurde nie erreicht. 2018 rief die damalige Premierministerin das Ende des gescheiterten Experiments mit der Austerität aus.

Im selben Jahr kritisierten die Vereinten Nationen Großbritannien dafür, mit der Austerität in einem der reichsten Länder der Welt für „großes Elend“ gesorgt zu haben. Nicht wirtschaftliche Notwendigkeit habe diese Politik angetrieben, hieß es in einer Stellungnahme, sondern der „politische Wunsch nach sozialer Umstrukturierung“. Die Regierung in London wies die Vorwürfe empört zurück.

Dabei werden die gravierenden Folgen dieses Experiments erst nach und nach klar. So kam eine akademische Studie, die kürzlich in der Fachpublikation „Journal of Epidemiology and Community Health“ veröffentlicht wurde, zu dem Schluss, dass mehr als 330.000 vorzeitige Tode in Großbritannien zwischen 2012 und 2019 auf die Kürzungen zurückzuführen sind. Forscher der University of Glasgow und des Glasgow Centre for Population Health führten diese Tode auf Einbußen beim Einkommen, Krankheit, Verschlechterungen bei der Ernährung und der Wohnsituation und auf soziale Isolierung zurück.

Nicht ohne Grund gilt Austerität heute in Großbritannien als politisch vergiftet. Aus dem konservativen Mainstream ist die Idee schon seit Jahren verschwunden. Boris Johnson gewann die Wahlen 2019 mit dem Versprechen, dass er abgehängte Regionen fördern würde. Umso erstaunlicher, dass Truss und Kwarteng nun immer mehr durchblicken lassen, dass sie ihre Steuergeschenke mit Ausgabenkürzungen finanzieren wollen.

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In ihrer Rede zum Abschluss des Tory-Parteitags in Birmingham am Mittwoch legte Truss sogar einen drauf: Sie versuchte, ihren Ideen einen kulturkämpferischen Anstich zu geben. Truss bezeichnete die Kritiker ihrer wirtschaftspolitischen Vorstellungen als „Koalition gegen das Wachstum“. Mit dabei, laut Truss: Oppositionsparteien und Gewerkschaften, kritische Kommentatoren, Umweltschutzorganisationen und die Regionalregierungen in Schottland und Wales. Also im Prinzip alle, die nicht daran glauben, dass Wunschvorstellungen vom Trickle-down-Effekt und Forderungen nach Austerität in die Gegenwart passen.

Da wäre nur ein Problem: Selbst innerhalb ihrer Partei nimmt die Zahl der offenen Gegner ihres radikalen Kurses stetig zu. Einige Minister setzen schon dazu an, gegen eventuelle Kürzungen bei den Sozialausgaben auf die Barrikaden zu gehen. Der nächste große Truss-Kwarteng-Flop bahnt sich an.

Die britische Öffentlichkeit, die politisch längst anders tickt, hat ihr Urteil bereits gefällt: Truss ist laut Umfragen schon jetzt unbeliebter als es der Skandal-Premier Boris Johnson jemals war. Die oppositionelle Labour-Partei liegt in einigen Umfragen mehr als 30 Prozent vor Truss’ Tories. Wären in Kürze Wahlen, würden die Tories politisch vermutlich ausradiert werden.

Es ist daher sehr gut vorstellbar, dass Truss und Kwarteng Ende des Jahres gar nicht mehr im Amt sein werden. Dem Land würden damit weitere wirtschaftspolitische Experimente mit überkommenen Ideen von vorgestern erspart.

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