„Lügner, Betrüger und Scharlatan“ Der Anfang vom Ende für Johnson?

Boris Johnson steht derzeit wie kaum ein Politiker für negative Schlagzeilen. Wie lange kann er sich als britischer Premierminister noch halten? Quelle: dpa

Seit Wochen stolpert Premier Boris Johnson von einem Skandal zum nächsten. Sein öffentliches Ansehen ist auf dem vorläufigen Tiefpunkt. Wird sich der politische Überlebenskünstler Johnson noch einmal erholen?

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Die erste Jahreshälfte 2021 lief für Boris Johnson gut. Großbritannien hatte schon früh große Mengen an Impfstoffen bei mehreren Herstellern eingekauft, begann bereits im vergangenen Dezember mit dem Impfen und erreichte damit binnen weniger Monate den Großteil der Bevölkerung. Im Frühjahr ging die Zahl der Neuinfektionen sowie der Covid-bedingten Krankenhauseinweisungen und Todesfälle rapide zurück. Viele Briten vergaßen die bis dahin weitgehend verhunzte Antwort der Regierung auf die Pandemie. Johnson legte in Umfragen bis zum Sommer stetig zu.

Doch dann verspielte die Regierung den gewonnen Vorsprung und hob im Juli - trotz konstant hoher Infektionszahlen und Warnungen aus der gesamten Welt – praktisch sämtliche Covid-Beschränkungen auf. Die Covid-Skeptiker in Johnsons Tory-Partei jubelten. Weite Teile der Bevölkerung blickten hingegen beunruhigt auf die anhaltend hohen Infektionszahlen, die sich im Schnitt zwischen 30.000 und 50.000 pro Tag einpegelten und auf die zwischen 100 und 200 Menschen, die täglich im Zusammenhang mit Covid ums Leben kamen. Die Unzufriedenheit der Briten war den zunehmend schlechter ausfallenden Umfragewerten für den Premier anzusehen. Doch das war nur der Anfang.

Aufträge für Amigos

Schon seit Monaten mehren sich im Zusammenhang mit der Pandemie Berichte über fragwürdige Vergaben von millionenschweren Regierungsaufträgen an Tory-Parteifreunde und Spender. Auch Johnsons Angewohnheit, von vermögenden Parteispendern Zuwendungen und Dienstleistungen entgegenzunehmen, sorgt schon länger immer wieder für Aufsehen. Dabei geht es unter anderem um Luxus-Urlaube in Villen reicher Geldgeber und um die kostspielige Renovierung der Dienstwohnung in der Downing Street. Johnson stritt die Vorwürfe stets ab, und die Berichte dazu verschwanden nach ein paar Tagen aus den Medien.

Doch vor wenigen Wochen stürzte Johnson in eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale, die ihn seinen Posten kosten könnte. Den Anstoß dazu gab der Premier selbst: Als vor wenigen Wochen ein Untersuchungsausschuss, der Vorwürfen von Fehlverhalten gegen Abgeordnete nachgeht, eine 30-tägige Suspendierung eines Tory-Abgeordneten empfahl, versuchte Johnson nicht nur, seinen umstrittenen Kollegen zu schützen. Er wollte den Ausschuss sogar gleich komplett abschaffen.

Der Tory-Abgeordnete, der gemaßregelt werden sollte, war Owen Paterson. Er hatte über Jahre eine halbe Million Pfund an angeblichen Beratungshonoraren von zwei Firmen entgegengenommen, für die er später regelwidrig Lobbyarbeit betrieben hat. Damit hat Paterson gegen den Verhaltenskodex verstoßen, dem britische Abgeordnete unterworfen sind. In dem abschließenden Untersuchungsbericht ist die Rede von den „unerhörtesten“ Verstößen seit Jahren. Die vorgeschlagene Strafe, ein Ausschluss aus den Sitzungen für 30 Tage, fiel da noch vergleichsweise milde aus. Die Abgeordneten mussten diese Strafe nur noch absegnen.

Johnson wies die konservative Fraktion im Unterhaus jedoch dazu an, Patersons Strafe auszusetzen. Mehr noch: Das gesamte Untersuchungssystem, das Paterson für schuldig befunden hat, sollte faktisch abgeschafft werden. Die „Einpeitscher“ der Tories setzten die konservativen Abgeordneten massiv unter Druck, um sie auf Linie zu bringen. Viele von ihnen stimmten zähneknirschend für den Vorstoß der Regierung. Die gewann die Abstimmung dann auch knapp.

Doch der öffentliche Aufschrei war gewaltig. Selbst das rechtslastige und ansonsten extrem regierungsnahe Revolverblatt Daily Mail kritisierte die Aktion scharf. Das ließ in der Downing Street die Alarmglocken schrillen. Bereits am kommenden Morgen ruderte die Regierung zurück und erklärte, sie werde von ihren Plänen ablassen. Da war der Schaden bereits angerichtet: Tory-Abgeordnete berichten von unzähligen Beschwerde-Emails und von Säcken voller wütender Briefe von Bürgerinnen und Bürgern, die über die fragwürdige Aktion verärgert waren. „Das war eine totale Farce“, sagte ein ehemaliger Minister dem Guardian. „Der Gestank von Filz und die überwältigende Inkompetenz könnten uns massiv schaden.“ Owen Paterson zog sich aus dem Wirrwarr zurück, indem er sein Mandat niederlegte.

Vetternwirtschaft, Versäumnisse und Verstöße gegen die eigenen Auflagen

Der Lobbyisten-Skandal und Johnsons schamloser Versuch, seinen Kollegen zu schützen, war nur der Auftakt. Wenige Tage später packte Johnsons ehemalige Geliebte, die amerikanische Geschäftsfrau Jennifer Arcuri, aus und erklärte, dass Johnson während seiner Zeit als Bürgermeister Londons seine Beziehungen spielen lassen habe, um ihr IT-Unternehmen voranzubringen. Seine Affäre mit Arcuri hatte Johnson damals nicht angegeben. Damit drohen Johnson nun möglicher Weise strafrechtliche Konsequenzen.

Raphael Marshall, ein ehemaliger Beamter im Außenministerium, ging kurz darauf als Whistleblower an die Öffentlichkeit und warf der Regierung massive Versäumnisse bei der Evakuierung Kabuls vor. Die Rede ist von zehntausenden von Afghanen, deren Gesuche um eine Evakuierung noch nicht einmal angeschaut worden seien.

Der wohl schwerwiegendste Vorwurf: Premier Johnson selbst habe trotz der immens hohen Zahl Evakuierungswilliger das Außenministerium angewiesen, Hunde und Katzen in einer privaten Chartermaschine auszufliegen, um die sich eine Wohltätigkeitsorganisation kümmerte. Johnson bestritt den Vorwurf, der kurz darauf aber durch einen geleakten Brief bestätigt wurde.

Die folgenschwersten Vorwürfe gegen Johnson und seine Regierung kamen ab Ende November ans Tageslicht: Die Tageszeitung Daily Mirror berichtete, dass Johnson und die Mitarbeiter des Regierungssitzes in der Downing Street im vergangenen Jahr wiederholt gegen die damals geltenden Kontaktbeschränkungen verstoßen und Partys gefeiert hätten. Die Öffentlichkeit reagierte empört. Schließlich konnten zahllose Briten damals wegen der Kontaktbeschränkungen kranke Familienmitglieder nicht besuchen oder an Bestattungen teilnehmen.

Die Regierung goss mit ihrer Reaktion auf die Vorwürfe noch Öl ins Feuer: Johnson, mehrere Minister und Regierungssprecher widersprachen sich in den darauffolgenden Tagen wiederholt: Entweder hieß es, die Feiern habe es gegeben, aber alle Auflagen seien eingehalten worden (was wenig plausibel ist). Oder die Existenz der Partys wurde bestritten.



Selbst als immer mehr Details zu weiteren Treffen und Feiern im Regierungsviertel bekannt wurden, stritt Johnson weiterhin alle Vorwürfe ab. Kein Wunder: Sollte man ihm nachweisen, dass er die Abgeordneten dazu belogen hat, könnte er sein Mandat (und somit seinen Posten als Premier) verlieren. Unter dem großen öffentlichen Druck kündigte Johnson dann aber eine interne Untersuchung an. Kabinettssekretär Simon Case, der ranghöchste Beamte des Landes, sollte sie anführen. Wenige Tage später kam jedoch heraus, dass Case selbst in dem fraglichen Zeitraum eine Party in seinem Büro ausgerichtet haben soll. Case zog sich flugs aus der Untersuchung zurück.

Das Fass zum Überlaufen brachte ein geleaktes Video. Darin zu sehen ist die damalige Sprecherin der Downing Street, Allegra Stratton, bei einer Probe-Pressekonferenz im vergangenen Dezember. Einer ihrer Kollegen spricht Stratton auf die regelwidrige Party in der Downing Street an. „Ich bin nach Hause gegangen“, sagt Stratton und lacht. „Diese fiktive Party war ein geschäftliches Treffen“, fährt sie dann fort. Sie lacht wieder und fügt hinzu, dass keine Abstandsregeln eingehalten worden seien.

Die britische Öffentlichkeit tobte vor Entsetzen. Stratton warf ihren Beraterjob für die Regierung hin und entschuldigte sich in einer tränenreichen öffentlichen Erklärung für ihr Verhalten. Seitdem kommen immer weitere Berichte über Feierlichkeiten in der Downing Street ans Tageslicht. Und immer häufiger ist auch Boris Johnson bei diesen Treffen dabei.

Angesichts der nicht enden wollenden Skandale und Johnsons unglaubwürdiger Dementis scheinen viele konservative Abgeordnete die Geduld mit ihrem Regierungschef verloren zu haben. Für ihren Protest haben sie sich allerdings den wohl denkbar ungünstigsten Anlass ausgesucht: Als das Parlament vor wenigen Tagen darüber abstimmte, ob angesichts der explodierenden Omikron-Fallzahlen in Großbritannien zum ersten Mal seit dem Sommer einige Covid-Beschränkungen eingeführt werden sollten, stimmte fast ein Drittel der Tory-Fraktion gegen den Vorstoß der Regierung. Die Beschränkungen traten nur in Kraft, da die Opposition sie unterstützte.

Für Johnson war das ein schwerer Schlag, der für Großbritannien schwere Folgen haben könnte: Denn wegen Johnsons Laissez faire-Kurses in Sachen Covid und der erneut verspäteten Reaktion seiner Regierung hat sich die Omikron-Variante des Coronavirus schon so stark im gesamten Land ausgebreitet, dass Experten eine Explosion an Erkrankungen in wenigen Tagen befürchten. Johnson ist jedoch in seinen eigenen Reihen dermaßen diskreditiert, dass er vermutlich nur mit Hilfe der Opposition weitere Covid-Maßnahmen in Stellung bringen könnte. Dabei würde er sich mit jeder Abstimmung, bei der er keine eigene Mehrheit zu Stande bringt, weiter schwächen. Die libertären Lockdown-Gegner bei den Tories würden damit ihr Ziel erreichen. Den Preis dafür zahlen würde die britische Öffentlichkeit.

Eine schwere Schlappe vor wenigen Tagen könnte Johnsons politisches Schicksal besiegelt haben: Bei der Nachwahl für den Sitz in der konservativen Hochburg North Shropshire - den Owen Paterson freigemacht hat, der Abgeordnete und Lobbyist - gewann überraschend die Kandidatin der Liberaldemokraten. Den Sitz haben die Tories zuvor seit über einem Jahrhundert ohne Probleme gehalten.

Und dann trat auch noch vor wenigen Tagen Brexit-Minister David Frost zurück. In seinem Abschiedsschreiben kritisierte Frost die angeblich zu einschneidenden Covid-Beschränkungen und den Umstand, dass Johnson das Land wohl gar nicht in ein Niedrigsteuer-Paradies für Thatcher-Verehrer verwandeln wolle. Der Umstand, dass der Brexit – dessen Bedingungen Frost ausgehandelt hat – nachweislich miserabel läuft, hatte mit dem Rücktritt demnach nichts zu tun.

Johnsons Autorität innerhalb seiner eigenen Partei dürfte damit ruiniert sein. Im öffentlichen Ansehen ist Johnsons dermaßen tief gesunken, dass es schwierig ist, sich vorzustellen, er könnte sich hiervon wieder erholen. Die Labour-Opposition hat in den vergangenen Wochen dermaßen zugelegt, dass sie aktuell aus Wahlen zum Unterhaus als stärkste Partei hervorgehen würde. Die Brexit-Hardliner und Anti-Lockdown-Fanatiker vom rechten Rand seiner Partei dürfte Johnson ganz verloren haben. Da die Tories seit jeher eine (in Sachen Parteivorsitz) putschfreudige Organisation sind, könnten viele Abgeordnete mit (sprichwörtlich) gewetzten Messern aus den Weihnachtsferien zurückkehren.

Johnson galt bisher als politischer Überlebenskünstler, der es in der Vergangenheit immer wieder geschafft hat, Niederlagen zu überwinden. Doch die Masse an Skandalen in jüngster Zeit und die schiere Unverschämtheit der Unwahrheiten, mit denen er sich herauszureden versucht, könnte Johnson gefährlich werden.

Ein Autor des Magazins New Statesman kommentierte diesen Umstand so: „Selbst eingefleischte Konservative sehen den Premierminister jetzt als das, was er ist: einen Lügner, Betrüger und Scharlatan.“

Mehr zum Thema: Leere Regale, erschossene Schweine, verdorbene Milch. In Großbritannien spitzt sich die Brexit-Krise weiter zu. Johnson will nicht schuld sein und bemüht ein Feindbild: gierige Unternehmer.

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