
Einen tiefen Einblick in seine Gedankenwelt gewährte Jean-Claude Juncker während der Eurokrise 2011: "Wenn es ernst wird, muss man lügen." So begründete der damalige Vorsitzende der Eurogruppe sein Dementi über ein geplantes Geheimtreffen einiger EU-Finanzminister zur Lage in Griechenland. Dabei fuhren die Staatskarossen zu diesem Zeitpunkt in Luxemburg bereits vor.
Juncker bleibt dieser Linie auch im Steuer-Skandal um "Luxemburg-Leaks" treu. Das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) mit Sitz in Washington hat Tausende Seiten mit Steuerdokumenten aus Luxemburg veröffentlicht, die zeigen, wie das Großherzogtum internationalen Konzernen mit Sondervereinbarungen jahrelang Vorteile gewährt hatte.
Steueroasen
Ein echtes Paradies: Viel Sonne, Strand und keine Steuern für Unternehmen, Werktätige und Privatiers
Irische Spezialität: doppelter Firmensitz mit direktem Zugang in die Karibik
Keine Steuern auf Lizenzen! Der Fiskus bietet geheime "Tax Rulings" zu Sonderkollektionen an
Nie mehr geteilt: Unternehmen vererben ohne Steuer. Gilt auch für privates Geld-, Aktien-, Immobilienvermögen
Kanalinsel im Kronbesitz von Elisabeth II. ohne Mehrwert-, Kapitalertrag- und Erbschaftsteuer. Milde Tarife für Unternehmen
Flamen mögen forschungsintensive Firmen: nur 6,8 Prozent Steuern. Plus: Fiktive Eigenkapitalzinsen drücken den Gewinn
Auf den ersten Blick teuer, aber reizvolle Doppelbesteuerungsabkommen mit Polen oder Südkorea
Gerade wer mit Kunst handelt, liebt die Finanzverwaltung der Insel für ihre Flexibilität und Verschwiegenheit
Dadurch sollen etwa rund 340 Unternehmen Steuern in Milliardenhöhe gespart haben. Juncker war von 1989 bis 2009 Finanzminister und von 1995 bis Dezember 2013 Premierminister des Großherzogtums. Reporter ließ Juncker unlängst wissen, dass nichts in seiner Vergangenheit Anlass zu der Vermutung gebe, er habe in Europa zur Organisation von Steuervermeidungspraktiken beigetragen.
Seine Reden aus der Vergangenheit zeigen ein anderes Bild: Im Mai 2003 hatte Juncker dem luxemburgischen Parlament angekündigt, dass AOL und Amazon ihr europäisches Hauptquartier nach Luxemburg verlegen werden. Nicht ohne Stolz berichtete er damals, dass Luxemburg daraus neue Zukunftsperspektiven erhalte und dass dies das Ergebnis einer korrekten Steuer- und Infrastrukturpolitik sowie harter Verhandlungen mit dem Top-Management der beiden US-Internetkonzerne gewesen sei.





Juncker erklärte dem Parlament auch gleich, mit welchem Steuermodell sich die beiden E-Commerce-Unternehmen nach Luxemburg locken ließen. Auch in späteren Reden hob Juncker darauf ab, wie Luxemburg dank seiner niedrigen Mehrwertsteuersätze Großunternehmen ins Land gelockt habe.
Als die Europäische Kommission 2006 die EU-Bestimmungen dahingehend ändern wollte, dass nicht mehr die Hauptniederlassung des Unternehmens, sondern der Wohnort der Kunden als Basis für die Mehrwertsteuer herangezogen werden solle, sah Juncker sein Steuermodell bedroht. Luxemburg stimmte der Änderung 2008 erst zu, nachdem man sich darüber verständigt hatte, dass die Änderungen in kleinen Schritten und erst zwischen 2015 und 2019 eingeführt werden sollen.
Luxemburg-Leaks
Mit Blick auf die groteske steuerliche Ungleichbehandlung von Großkonzernen und Privaten und den drohendem politischen Konsequenzen in der EU wäre Berlin gut beraten, mit Solidaritätsbekundungen in Richtung Juncker – wie unlängst von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble – zurückhaltend umzugehen.
"Luxemburg-Leaks" ist Wasser auf die Mühlen der politischen Extremparteien in Europa. Marine Le Pen, die Führungsfigur des rechtsradikalen Front National in Frankreich, hat bereits gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Europäischen Parlaments den Rücktritt Junckers als Kommissionspräsident gefordert.
Die US-Steuerbehörden werden nach den Steuervermeidungspraktiken der Schweizer Großbanken nun auch jene von Luxemburg und der betroffenen US-Konzerne genau unter die Lupe nehmen. Die Brachialmethoden der US-Behörden sollten nach den Erfahrungen im Steuerstreit der USA mit der Schweiz bekannt sein.
Wie hochrangige Schweizer Banker könnte sich auch Juncker eines Tages auf der Fahndungsliste amerikanischer Ermittlungsbehörden wiederfinden. Ein EU-Kommissionspräsident, der aus Angst vor einer Festnahme nicht mehr in die USA reisen kann, ist eine unangenehme Vorstellung.
Steuerpraktiken von Luxemburg
Der öffentliche Aufschrei in den USA über die Steuerpraktiken von Luxemburg wird nicht lange auf sich warten lassen. Laut jüngsten Zahlen des U.S. Bureau of Economic Analysis gingen 2012 Gewinne von US-Unternehmen in Höhe von rund 95 Milliarden Dollar über Luxemburg. Darauf entrichtet wurden aber nur Steuern in Höhe von 1,04 Milliarden Dollar.
2012 berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass Amazon zwischen 2007 und 2011 nur einen durchschnittlichen Steuersatz von 5,3 Prozent auf seine Übersee-Einkommen zu entrichten hatte – die Mehrheit davon wurde über Luxemburg abgewickelt.
Hunderte europäischer und großer internationaler Konzerne, darunter FedEx, Blackstone, Deutsche Bank, H.J. Heinz, JP Morgan Chase, Procter & Gamble, HSBC oder Pepsi haben Deals mit Luxemburg abgeschlossen, die es ihnen ermöglichen, Steuerzahlungen in Ländern, in denen ihre Einnahmen anfallen, zu vermeiden.
Die Deals sind hochkomplex und können, wie im Fall von Abbott Laboratories 20089, auch schon mal 79 Etappen mit Umwegen über Unternehmen in Zypern und Gibraltar durchlaufen. Der US-Pharmakonzern bedankte sich für die Vorzugsbehandlung mit der Ankündigung, über Luxemburg 50 Milliarden Dollar investieren zu wollen.
Das U.S. Bureau of Economic Analysis meldet allein für das vergangene Jahr 416 Milliarden Dollar Direktinvestitionen amerikanischer Unternehmen in Luxemburg. Gut 80 Prozent der Summe kommt von Holdinggesellschaften.
Diese verwalten üblicherweise Wertpapiere und andere Finanzvermögenswerte, schaffen in der Regel aber kaum Arbeitsplätze. Das ist auch nicht das vorrangige Ziel Luxemburgs. Dafür aber gibt es dickes Lob von den großen Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaften.
Diese waren maßgeblich an der Ausarbeitung der komplexen Steuerdeals beteiligt. In einer Präsentation von 2009 lobte etwa PWC das Großherzogtum als Platz mit schnellen Entscheidungsprozessen – dank flexibler und empfangsbereiter Behörden, die leicht kontaktierbar und bereit zum Dialog seien.