
Ein knappes Jahr nach dem Brexit-Referendum wählen die Briten am 8. Juni vorzeitig ein neues Parlament und entscheiden damit über den Kurs in den Verhandlungen mit der EU. Die Abgeordneten des Unterhauses stimmten dem Antrag von Premierministerin Theresa May mit großer Mehrheit zu. May erhofft sich von einem klaren Sieg ihrer konservativen Partei mehr Rückendeckung für die Verhandlungen über den Austritt aus der Europäischen Union.
522 Abgeordnete stimmten für die Neuwahl im Juni, nur 13 dagegen. Die Schottische Nationalpartei und einige Dutzend Labour-Abgeordnete enthielten sich. Regulär hätten die Briten erst 2020 wieder zu den Wahlurnen gehen dürfen. May war nach dem Brexit-Votum im vergangene Jahr David Cameron als Premier in der Downing Street nachgefolgt.
Die Entscheidung über die Neuwahl hatte May am Dienstag überraschend angekündigt. Oppositionschef Jeremy Corbyn nannte May deshalb in der Parlamentsdebatte am Mittwoch „eine Premierministerin, der man nicht trauen kann“. Sie habe stets betont, dass es keine Neuwahl geben werde. Dennoch begrüße seine Partei mehrheitlich den vorgezogenen Urnengang als Gelegenheit, die Konservativen abzuwählen. May verteidigte sich: „Wir wollen dem Vereinigten Königreich langfristig Stabilität geben und darum wird es in dieser Wahl gehen - Führung und Stabilität.“
Umfragen sehen einen großen Vorsprung für die regierenden Konservativen, die zerstrittene Labour-Partei dagegen in einem historischen Tief. Der Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow erinnerte aber vor den Tücken des britischen Wahlsystems, einem reinen Mehrheitswahlrecht. „Selbst ein erheblicher Vorsprung in den Umfragen bedeutet nicht unbedingt eine große Mehrheit im Unterhaus“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Sollte es May nicht gelingen, ihre Regierungsmehrheit deutlich auszubauen, könnte die Neuwahl als Fehlschlag gedeutet werden.
Auf Großbritanniens Position in den Brexit-Verhandlungen mit Brüssel wird die Parlamentswahl dagegen dem Politikwissenschaftler Simon Usherwood zufolge kaum Auswirkungen haben. „Es geht dabei nur um den innenpolitischen Kontext, nicht um den europäischen“, sagte Usherwood von der Uni Surrey der Deutschen Presse-Agentur. May wolle die Schwäche der Labour-Partei ausnutzen und ihre Machtbasis vergrößern.
Die Bundesregierung rechnet nicht damit, dass die Parlamentswahl die Verhandlungen über den EU-Austritt beeinträchtigen wird. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte am Dienstag mit May telefoniert.
Den Brexit-Fahrplan wird die Wahl aber wohl ein wenig verzögern: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker rechnet nun mit einem Start der Verhandlungen nun erst nach dem 8. Juni. Dies teilte sein Sprecher nach einem Telefonat Junckers mit Premierministerin May mit. Die Gespräche hätten eigentlich am 22. Mai beginnen sollen, sobald die EU ihre Vorbereitungen abgeschlossen hat.
Die Briten hatten im vergangenen Juni mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der EU gestimmt. Das Referendum stellt das Land vor eine Zerreißprobe: Die Schotten und Nordiren waren für einen Verbleib, wurden aber überstimmt.
Der Brexit-Fahrplan
Laut Barnier sollen bis Oktober 2018 die Details für den Austritt Großbritanniens ausverhandelt sein. Der Franzose hat diesen Zeitplan bereits als sehr ambitioniert bezeichnet. Andere Experten halten ihn angesichts der Fülle der Problemfelder für unmöglich. Womöglich wird es deshalb zahlreiche Übergangsfristen von etwa zwei bis fünf Jahren geben.
Die schottische Regierung will im Herbst 2018 ein zweites Referendum über den Verbleib im Vereinigten Königreich abhalten, sobald die Bedingungen für den Brexit klar sind. May hat dies abgelehnt.
Bis März 2019 wäre dann Zeit, damit Mitgliedsländer und EU-Parlament die Vereinbarung ratifizieren. Der Tag des Austritts Großbritanniens aus der EU wäre dann Samstag, der 30. März.
Unklar ist, wann die umfassenderen Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU abgeschlossen sind. May strebt ein Freihandelsabkommen mit der EU innerhalb weniger Jahre an, über das schon parallel zum Brexit verhandelt werden soll. Dagegen verweist die EU-Kommission auf die Erfahrung aus anderen Abkommen wie etwa mit Kanada (Ceta), über das sechs Jahre lang verhandelt wurde. Im Ceta-Vertrag sind allerdings keine Vereinbarungen über den komplexen Bereich der Finanzdienstleistungen enthalten, die für Großbritannien und den Finanzplatz London von enormer Bedeutung sind.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon will den Brexit nutzen, um die Schotten erneut über ihre Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmen zu lassen. Sie deutete am Mittwoch an, ihre Schottische Nationalpartei würde eine Minderheitsregierung von Labour tolerieren. Dazu dürfte es aber aller Voraussicht nach nicht kommen.
Zeitgleich zur Debatte der Abgeordneten im Unterhaus gab der ehemalige Finanzminister George Osborne bekannt, seinen Sitz im Parlament aufzugeben. Das berichtete der Londoner „Evening Standard“. Der 45-jährige Konservative wird Chefredakteur der Zeitung.