Meinhard Miegel "Wir schaffen das"

Deutschland könnte aus der Flüchtlingskrise gestärkt hervorgehen, wenn es verbindliche Regeln konsequent umsetzt, glaubt Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel. Für Einwanderer werde Deutschlands Attraktivität bald nachlassen.

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Meinhard Miegel ist Sozialwissenschaftler, Publizist und Vorstandsvorsitzender vom Denkwerk Zukunft. Quelle: Presse

WirtschaftsWoche: Angela Merkel steht gerade ziemlich allein in Europa. Sie hat im vergangenen Sommer Deutschland für Flüchtlinge geöffnet, doch die anderen Regierungen wollten nicht mitmachen. Wer einlädt, zahlt, heißt die Devise in der EU offenbar. Ihr wird vorgeworfen, ohne Absprachen im Alleingang gehandelt zu haben. Zu Recht?

Meinhard Miegel: Dieser Vorwurf ist pure Heuchelei. Frau Merkel hat doch niemanden eingeladen, sondern Menschen, die sich in existenzieller Not befanden, die Türe geöffnet. Was sollte denn mit denen in der Ägäis oder an der griechisch-mazedonischen Grenze oder auch im Budapester Hauptbahnhof geschehen? Da vegetierten viele Tausende dahin, auch Frauen und Kinder. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, diese Herausforderung in Absprache mit den europäischen Partnern zu meistern. Aber glaubt denn irgendwer im Ernst, dass diese sich anders verhalten hätten, wenn sie vorher gefragt worden wären? Hier drohte eine humanitäre Katastrophe, die nur durch rasches Handeln abgewendet werden konnte.

Sie sind auch Jurist. Hat sich Merkel, wie ihre Kritiker monieren, außerhalb der Rechtsordnung bewegt?

Nein. Denn diese Rechtsordnung kennt auch den übergesetzlichen Notstand. Ein solcher Notstand war eingetreten. Bei Gefahr für Leib und Leben ist es erlaubt, eine rote Ampel zu überfahren.

Wie wird Deutschland aus dieser Krise hervorgehen?

Gestärkt. Noch vor wenigen Wochen war ich skeptischer. Heute meine auch ich: Wir schaffen das.

Warum?

Dafür sprechen nicht zuletzt die nackten Zahlen. Diese 1,1 Millionen, die da im Raum stehen, haben doch keinen Bestand. Darin enthalten sind zahlreiche Doppelzählungen, nicht wenige werden enttäuscht in ihre Heimatländer zurückkehren und wieder andere werden Deutschland verlassen müssen, weil sie keinen Anspruch darauf haben, bleiben zu dürfen. Wenn sich von den 1,1 Millionen am Ende 0,4 bis 0,5 Millionen dauerhaft in Deutschland niederlassen, wäre das viel. Zugleich schrumpft die ansässige Bevölkerung pro Jahr um 0,2 bis 0,3 Millionen. Zwar sage ich nicht, dass das auf Dauer so weitergehen kann. Aber schon jetzt die Alarmglocken schrillen zu lassen, ist völlig unangemessen.

Obergrenze - wer ist dafür, wer dagegen?
Gerhard Schröder (SPD) erwartet in diesem Jahr erneut rund eine Million Flüchtlinge in Deutschland. „Wir werden das in diesem Jahr noch einmal schaffen, selbst wenn wir mit einer weiteren Million rechnen müssen - so alle Voraussagen“, sagte der Altkanzler. „Aber dann sind die Kapazitätsmöglichkeiten in den Kommunen, in den Ländern auch erschöpft.“ Und weiter: „Ich hätte nicht gesagt: Wir schaffen das“, sagte Schröder und bezog sich damit auf die entsprechende Aussage von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Flüchtlingsfrage. „Ich hätte gesagt: Wir können das schaffen, wenn wir bereit sind, Voraussetzungen dafür hinzubekommen.“ (Stand: 4. Februar 2016) Quelle: AP
Bundespräsident Joachim Gauck hat eine offene Diskussion über die Begrenzung des Flüchtlingszuzugs gefordert. Begrenzungsstrategien könnten „moralisch und politisch geboten“ sein, sagte Gauck im WDR-Rundfunk. Gerade in dem Bemühen, möglichst vielen Menschen helfend zur Seite zu stehen, könne es begründet sein, „dass man nicht allen hilft“. Es sei möglich, hilfsbereit und sorgenvoll zugleich zu sein, betonte Gauck. Es zeige sich, dass wir „das Für und Wider und das Maß an Aufnahmebereitschaft“ öffentlich besprechen müssen. (Stand: 4. Februar 2016) Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will eine spürbare Reduzierung des Flüchtlingszustroms in diesem Jahr erreichen. Eine Lösung der Flüchtlingskrise sehe sie in der Bekämpfung der Fluchtursachen und der Sicherung der Außengrenzen, sagte Merkel. „Ich verspreche Ihnen, weil ich weiß, dass es vielen Tag und Nacht durch den Kopf rumgeht, dass wir alles daran setzen, die Zahlen für dieses Jahr spürbar zu reduzieren“, fügte die Kanzlerin hinzu. Eine starre Obergrenze, wie von der Schwesterpartei CSU gefordert, lehnt die Kanzlerin bislang ab. (Stand: 22. Januar 2016) Quelle: AP
Sigmar Gabriel will "von einer chaotischen zu einer planbaren Zuwanderung kommen". Deutschland müsse "feste Kontingente für die Aufnahme von Flüchtlingen einführen, um die Kontrolle zu behalten, wie viele Menschen kommen und wann sie kommen", sagte der Wirtschaftsminister der der Funke-Mediengruppe. Deutschland könne deutlich mehr als die von CSU-Chef Horst Seehofer genannten 200.000 Flüchtlinge im Jahr aufnehmen. "Aber das Kontingent muss auch deutlich unter den Zuwanderungszahlen des vergangenen Jahres liegen." Zwar stimme der Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), das Asylrecht kenne keine Obergrenze, sagte der Vizekanzler. "Aber in einer Demokratie entscheiden die Bürger. Und ich rate uns allen, diese Grenze, die das Land aufzunehmen in der Lage ist, nicht auszutesten." Wenn die Maßnahmen zur Verringerung der Flüchtlingszahlen im Frühjahr nicht wirkten, "bewegen wir uns auf Zahlen zu, die schwierig werden". (Stand: 16. Januar 2016) Quelle: dpa
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) warnt vor einer Überforderung Deutschlands in der Flüchtlingskrise. "Jeder sieht ein, dass wir nicht die ganze Welt aufnehmen können", sagte Schäuble. "Zu Unmöglichem kann man nicht verpflichtet werden." Schäuble forderte, Deutschland und Europa müssten sich künftig deutlich stärker finanziell und sicherheitspolitisch im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika engagieren, um den Flüchtlingszuzug einzudämmen. Der Finanzminister stärkte zudem der wegen ihres Kurses in der Flüchtlingspolitik auch innerparteilich in die Kritik geratenen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Rücken. "Sie kämpft darum, dass Europa so wenig wie möglich beschädigt wird. Darin unterstütze ich sie", sagte Schäuble. (Stand: 2. Februar 2016) Quelle: dpa
Die CSU setzt in der Flüchtlingskrise voll auf Konfrontation mit der Bundeskanzlerin und fordert eine Obergrenze von 200.000 Personen pro Jahr. „Wir werden diese Begrenzung weiterhin massiv einfordern - politisch, und möglicherweise auch rechtlich“, sagte Parteichef Horst Seehofer bei der Klausur der CSU-Landtagsfraktion in Wildbad Kreuth. Bayern erwägt zudem eine Verfassungsklage gegen die Bundesregierung, an der die CSU selbst beteiligt ist. (Stand 21. Januar 2016) Quelle: dpa
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hält eine Obergrenze aus rechtlichen Gründen nicht für möglich. Sie unterstützt den Ansatz, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Zugleich fordert sie, anerkannten Asylbewerbern unter bestimmten Umständen zu verbieten, sich den Wohnsitz innerhalb Deutschlands frei zu wählen. "Es darf nicht sein, dass alle Flüchtlinge, sobald sie anerkannt sind, wie prognostiziert in die Großstädte ziehen", sagte die SPD-Politikerin dem "Kölner Stadt-Anzeiger". (Stand: 1. Februar 2016) Quelle: dpa

Glauben Sie, dass die andere Hälfte tatsächlich abgeschoben werden kann?

Das ist keine Frage des Glaubens, sondern des Willens. Wenn es politisch gewollt ist, kann es auch geschehen. Und ich habe den Eindruck, dass anders als in der Vergangenheit jetzt der politische Wille vorhanden ist, rechtliche Regelungen konsequenter durchzusetzen. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass der Flüchtlingsstrom zumindest auf mittlere Sicht abebben wird.

Warum sollten weniger Menschen kommen?

Aus mehreren Gründen. Zum einen hat der derzeitige Zustrom ganz konkrete Ursachen, die nicht für alle Zeit Bestand haben werden. Ich denke an die Kriege in Syrien, Afghanistan, Irak und Palästina. Zum anderen kommen jetzt viele Menschen aus Ländern, die sogenannte sichere Herkunftsländer sind: Nordafrika und der Balkan. Diese Menschen haben in den meisten Fällen kein Bleiberecht, was sie in nicht so ferner Zukunft einsehen dürften. Und drittens wird die Anziehungskraft Deutschlands für Flüchtlinge je länger je mehr abnehmen. Viele werden in ihre Länder zurückkehren und ihre Landsleute wissen lassen: Deutschland ist vielleicht ganz schön, aber es ist nicht das gelobte Land, von dem wir geträumt haben. Nüchternheit wird einkehren. Und das ist gut so.

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Sie haben sich wie kaum ein anderer Sozialwissenschaftler seit Jahrzehnten mit demografischen Problemen befasst. Sind die Flüchtlinge die Lösung?

Eine Lösung unserer demografischen Probleme sind sie nicht. Aber sie können helfen, die eine oder andere Klippe zu umschiffen. Fakt ist nämlich, dass die ansässige Bevölkerung zahlenmäßig schrumpft und zügig altert, um nicht zu sagen vergreist. Der Grund: Seit fast einem halben Jahrhundert werden hierzulande nur zwei Drittel der Zahl der Kinder geboren, die zur Erhaltung des Bevölkerungsbestandes erforderlich sind. Auf diese Weise hat sich die Bevölkerung hohe Billionenbeträge "erspart", die sie an sich in Kinder hätte investieren müssen. Diese Investitionen müssen jetzt bei den Zuwanderern zumindest teilweise nachgeholt werden.

"Zuwanderung, die gelingen soll, zwingt zur Auseinandersetzung"

Aber das Geld dafür haben wir nicht auf die hohe Kante gelegt.

So ist es. Es wurde verjubelt. So läuft es eben, wenn eine Generation auf Kosten der nächsten lebt. Vielleicht ist uns Heutigen das eine Lehre.

Sie erwarten also unterm Strich neue ökonomische Dynamik? 

Ich erwarte keine solche Dynamik, halte sie aber für möglich. Wichtiger noch als das Ökonomische ist jedoch aus meiner Sicht der mögliche geistig-kulturelle Impuls. Zuwanderung, die gelingen soll, zwingt zur Auseinandersetzung. Auseinanderersetzung erzeugt Reibungen und Reibungen erzeugen Wärme. An uns liegt es, wie wir diese Wärme umsetzen. Aber immerhin, zunächst einmal steht sie uns zur Verfügung. Länder, die sich dieser Auseinandersetzung von vornherein entziehen, vermeiden Risiken, verpassen aber auch große Chancen.

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Viktor Orbán will lieber, dass Ungarn ein homogener Nationalstaat bleibt.

Aus historischen Gründen verstehe ich das. Aber im 21. Jahrhundert ist seine Position anachronistisch.

Seit einigen Jahren herrscht nun in Deutschland der weitgehende Konsens, dass wir ein Einwanderungsland sind. Aber es gibt kein Einwanderungsrecht. Die de-facto-Einwanderung läuft zum großen Teil über das Asylrecht, obwohl alle Beteiligten wissen, dass nur eine kleine Minderheit dieser Einwanderer tatsächlich asylberechtigt sind. Die anderen werden aber „geduldet“.

Das ist ein unmöglicher Zustand, der für uns nur Nachteile hat. Deutschland hat ein im internationalen Vergleich recht restriktives Asylrecht. Konsequent angewendet würden die wenigsten der Ankömmlinge bleiben können. Da es aber keine verbindliche Zuwanderungsregelung gibt, segeln viele unter der Flagge des Asyls, das damit hoffnungslos überdehnt wird. Künftig muss ganz klar entschieden werden, wer einen genau definierten Asylanspruch hat. Der oder die ist dann ohne Wenn und Aber aufzunehmen. Für alle anderen gilt: Hier stehen die Interessen des Aufnahmelandes im Vordergrund. Ob Zuwanderer willkommen sind, hängt von Vielerlei ab: Arbeitsplätzen, Wohnraum, ihrer Altersstruktur, ihrer schulischen und beruflichen Qualifikation und anderem mehr. Erklärte Einwanderungsländer tun sich leichter, ihre Erwartungen an Einwanderer unmissverständlich zu definieren und durchzusetzen. Dadurch vermindern sie Enttäuschungen und Frustrationen bei allen Beteiligten.

Was ist unser nationales Interesse?

Jedenfalls mehr als nur eine florierende Wirtschaft, die über genügend Arbeitskräfte verfügt.

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Zum Beispiel?

Wir müssen zum Beispiel auch die ökologische Tragfähigkeit unseres Landes im Blick behalten und darauf achten, dass die Wärme, die aus kulturellen Reibungen entsteht, nicht zu versengender Hitze wird.

Wer sind Gewinner und Verlierer der gegenwärtigen Entwicklung?

Das kommt auf das Verhalten der Beteiligten an. An sich braucht es überhaupt keine Verlierer zu geben. Dass Menschen, die Asyl oder eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen suchen, in der Regel Gewinner sein werden, liegt auf der Hand. Aber auch die ansässige Bevölkerung profitiert. Aufgrund der in Deutschland extrem niedrigen Geburtenrate, würde die Bevölkerung schon seit vielen Jahren rapide schrumpfen und altern. Durch die Zuwanderung wird diese Entwicklung verlangsamt und dadurch besser steuerbar. Dies dürfte eine grundsätzlich positiv zu bewertende Nebenwirkung der Wanderungsbewegungen im 21. Jahrhundert sein: Die in den einzelnen Ländern und Weltregionen sehr unterschiedlich verlaufenden demografischen Entwicklungen werden durch sie etwas ausgeglichen.

Sie sprachen gerade von der Ökologie, die auch zu den nationalen Interessen gehöre. Die Deutschen gelten als ziemlich umweltbewusst. Aber wird das für die eingewanderten Menschen auch gelten?

Das weiß ich nicht. Einerseits haben die Zuwanderer einen hohen Nachholbedarf, dessen Befriedigung tendenziell umweltbelastend wirken dürfte. Andererseits sind sie an materiell bescheidene Lebensbedingungen gewöhnt. Das könnte sie zu Vorbildern für die ansässige Bevölkerung werden lassen. Das aber ist hochspekulativ.

"Europa muss weit mehr sein als ein Markt"

In Ihren Büchern und Vorträgen geht es meist um das bevorstehende Ende des Zeitalters des Wirtschaftswachstums. Wird sich das nun angesichts des aktuellen Einwanderungsschubs verschieben? Muss die Wirtschaft jetzt nicht sogar weiter wachsen, um die Neuankömmlinge zu versorgen?

Europa, vor allem Westeuropa und Deutschland, genießen einen materiellen Lebensstandard, der so turmhoch über dem globalen Lebensstandard liegt, dass es durchaus möglich ist, selbst eine stattliche Zahl von Zuwanderern bei unveränderter und selbst sinkender Wirtschaftsleistung auskömmlich mitzuversorgen. Die 500 Millionen EU-Bürger müssen nicht mehr produzieren, um vielleicht zwei oder drei Millionen Zuwanderer tragen zu können.

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Historiker suchen derzeit nach Vergleichen der heutigen Entwicklung mit früheren Wanderungsbewegungen. Man spricht über Amerikas Erfolgsgeschichte, über Hugenotten und Polen im Ruhrgebiet, über die deutschen Ost-Flüchtlinge von 1945. Einige Historiker sehen uns gar in der Lage des untergehenden Römischen Reiches.

Historische Vergleiche sind oft irreführend, besonders wenn sich die Rahmenbedingungen so radikal verändert haben, wie in der jüngsten Vergangenheit. Als der spanische Philosoph Ortega y Gasset zu Beginn der 1930 Jahre sein berühmtes Buch "Der Aufstand der Massen" schrieb, lebten weltweit 2,3 Milliarden Menschen. Heute sind es mit fast 7,4 Milliarden mehr als dreimal so viel. Und binnen eines historischen Wimpernschlags bis 2050 werden voraussichtlich noch einmal 2,3 Milliarden hinzukommen.
Das lässt alle historischen Erfahrungen obsolet werden. Hinzu kommen die beispiellosen Verschiebungen zwischen den Kontinenten. Während sich die Bevölkerung Afrikas von 1970 bis 2100 ungefähr verachtfachen dürfte, dürfte sie - ohne Zuwanderung - in Europa um etwa ein Sechstel abnehmen. Ein weiterer Unterschied zu früher ist das enorme Wohlstandsgefälle. Als vor reichlich 150 Jahren europäische Auswanderer nach Amerika kamen, wanderten Arme zu Armen. Da gab es niemanden, der Kinder mit Teddybären empfing und es gab erst recht keine sozialstaatlichen Einrichtungen, die eine Mindestversorgung der Ankömmlinge sicherstellten. Neu ist auch, dass jetzt junge Menschen in eine alte Bevölkerung einwandern. Früher waren alle jung. Die Liste solcher Unterschiede ließe sich fortführen.

Ist es ein Konstruktionsfehler der EU, dass sie auf der Wirtschaft aufgebaut ist?

Jean Monnet, einer der Väter der europäischen Einigung, soll gesagt haben, beim nächsten Mal würde er nicht mit der Wirtschaft sondern mit der Kultur beginnen. Wie berechtigt dieser Gedanke ist, zeigt sich gerade jetzt wieder. Europa steht in der Gefahr, zwar nicht wirtschaftlich aber kulturell zu zerfallen. Was derzeit in Teilen Europas geschieht, ist mit europäischen Werten nicht zu vereinbaren. Sollten diese Sichtweisen Schule machen, würde Europa aufhören Europa zu sein. Bloß für einen europäischen Binnenmarkt zu kämpfen, ist kein lohnendes Ziel. Europa muss entweder weit mehr sein als ein Markt, nämlich eine Kultur- und Wertegemeinschaft. Oder es ist nicht viel mehr als eine zerklüftete eurasische Halbinsel.

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