
Max Weber, der Vordenker moderner Politik, hat den Mächtigen eine interessante Denksportübung hinterlassen. Es ist seine Unterscheidung zwischen der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik. Verkürzt gesagt, lautet dieser Unterschied so: Der Gesinnungsethiker stellt seine moralische Abwägung über alles und ignoriert die möglichen Folgen eines allzu idealistischen Handelns, das Prinzip ist ihm also wichtiger als das Ergebnis. Der Verantwortungsethiker hingegen ist laut Weber keineswegs unmoralisch, aber die Moral geht ihm nicht über alles, er stellt die konkreten Folgen seines Handelns in den Vordergrund.
Politiker sind per Definition meist Verantwortungsethiker, auch Kanzlerin Angela Merkel. Doch bei ihrem Besuch in der Türkei am Sonntag war ein interessanter politscher Hybrid zu beobachten, die einer realistischen Idealistin.
In der Flüchtlingsfrage erscheint Merkel vielen Deutschen nämlich längst als Gesinnungsethikerin, als eine Politikerin, der die Maxime des “Wir schaffen das” über alles geht – und die mögliche negative Folgen für Land, ihre Partei und die Politik hintenan stellt. Das wäre dann nicht mehr ihr Land, so wehrt sie all zu scharfe Kritik an ihrer Willkommens-Kultur ab. Hätte sie dafür gerade noch den Friedensnobelpreis gewonnen, wie viele Beobachter erwarteten, wäre diese Gesinnungsethik der ganzen Welt vor Augen geführt worden.
Doch Merkel hat die Grenzen ihrer Gesinnungsverantwortung längst begriffen. Deshalb war sie am Sonntag auch zu einer gehörigen Portion Verantwortungsethik bereit, man könnte sagen: Sie war bereit, sich die Hände schmutzig zu machen.
Deutschland und die Türkei unter dem umstrittenen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wollen nämlich nun in der Flüchtlingskrise enger zusammenarbeiten, so das Fazit von Merkels Blitzvisite in Istanbul. Das Land soll Visa-Erleichterungen und Finanzhilfen erhalten – im Gegenzug erwartet Deutschland eine schnellere Einführung des Rückübernahmeabkommens seitens der Türkei und eine bessere Behandlung der rund 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak dort – damit diese eher in der Türkei bleiben, statt weiter bis nach Deutschland zu kommen.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Für Merkel ist diese Kooperation alternativlos, sie ist bereit, dafür viel Geld und auch viele Kompromisse – etwa mit Blick auf die EU-Beitrittsbewerbung der Türkei – zu investieren. "Schaffen" kann sie das nur mit der Türkei.
Doch wie gesagt, sie paktiert mit einem schwierigen Freund. Erdogan hält nicht viel von Pressefreiheit, schon gar nicht von Rechten für die kurdische Minderheit. Und von seinem eigenen Volk scheint er auch nicht viel zu halten, zumindest wenn die Bürger Kritik wagen, wie die Niederschlagung der regierungskritischen Gezi-Proteste im Jahr 2013 offenbarte.