Michel Barnier Der Mann, der den Brexit aushandelt

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Keep calm and carry on

Die mutmaßlichen Gegenspieler Barnier und Davis verbindet, wie es sich für komplizierte Beziehungen gehört, eine Vorgeschichte. Die beiden begegneten sich 1995 in einer Reflexionsgruppe zu Europathemen, beide waren damals Europa-Staatssekretäre. Es ging um die Zukunft der EU nach dem Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden. Mit manchen aus der Gruppe ist Barnier bis heute befreundet. Davis hingegen blieb ein Außenseiter, mit dem kaum jemand warm wurde. Schon damals fiel auf, dass er nicht europäisch dachte. Das dürfte mittlerweile erst recht gelten. Entsprechend kompliziert könnten die Verhandlungen ausfallen.

Aber Barnier ist ein Motivationskünstler. Wenn seine Mitarbeiter durchhängen, erzählt er ihnen oft die Geschichte von Albertville: Als Regionalpräsident der Savoyen holte er mit großer Ausdauer die Olympischen Winterspiele 1992 in seine Heimat. Zehn Jahre Lobbyarbeit musste er dafür leisten, für 16 Tage Olympia. Barnier kramt die Erinnerung daran so gerne heraus, weil sie für ihn eine zentrale Botschaft enthält: Bei großen Projekten dürfe man sich nicht verzetteln, müsse man den Blick heben und gen Horizont blicken. In Barniers Büro hängt ein Foto von Kindern, die während der Spiele fröhlich auf der Straße tollen.

Trotz dieses Verhandlungstriumphs ist es Barnier gewohnt, unterschätzt zu werden. Als EU-Binnenmarktkommissar erntete er Spott, weil er nie ohne seine feuille de route auftrat, eine Art Landkarte, die den genauen Stand seiner Gesetzesinitiativen im Brüsseler Institutionsgeflecht auflistete. Doch die Kritiker verstummten, als sich im Laufe seiner fünfjährigen Amtszeit mehr und mehr Felder in der Excel-Tabelle grün färbten. 41 Gesetzesprojekte hat Barnier als Kommissar umgesetzt. Nur bei zweien, darunter ein Streit um Banker-Boni, hat ihn die Londoner City ausgebremst.

"Schallende Ohrfeige" für Theresa May
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Systematisch hat Barnier an Kompromissen gefeilt, ist auf Kritiker ein- und zugegangen. Als der britische Europaabgeordnete Syed Kamall ihn in einem Leserbrief in der „Financial Times“ anging, rief er ihn noch am selben Morgen an und bat um ein klärendes Gespräch. „Ich kann mir nur wenig andere vorstellen, die ich so gerne am Verhandlungstisch sehen würde“, sagt Brexit-Befürworter Kamall heute. Er lobt ihn als „menschlich, pragmatisch und erfahren“.

Auf der großen Bühne hingegen fehlt dem EU-Vertreter Charisma, wie jüngst bei einem Auftritt in Dublin zu besichtigen. Die Einladung zu einer Rede vor beiden Kammern des Parlaments war ein Privileg, das vor ihm nur wenige ausländische Staatsgäste genossen haben, etwa US-Präsident John F. Kennedy. Barnier bedankte sich artig für die Einladung und zitierte ein Gedicht des irischen Nobelpreisträgers Seamus Heaney. Aber wie er mit seinen 1,89 Metern aufrecht dastand und seine Ansprache Seite für Seite ablas, zeigte sich: Einen ganzen Saal für sich einnehmen kann er nicht. Ihm fehlt die Leichtigkeit und Weltläufigkeit, mit der Frankreichs Elite gerne Allwissen suggeriert. Die französische Tageszeitung „Libération“ attestierte Barnier die Gestik „eines Notars aus der Provinz“.

Frühstück mit Merkel

Doch Ausstrahlung braucht er ja auch nicht für die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen: Dort brilliert der Handwerkersohn, der nicht die Kaderschmiede ENA, sondern die private Wirtschaftshochschule ESCP absolviert hat. Als Binnenmarktkommissar traf sich Barnier in den Plenarwochen in Straßburg im 20-Minuten-Takt mit Europaabgeordneten, um Kompromisse auszuloten.

„Er kannte seine Dossiers und wusste genau, an welcher Stelle noch Spielraum war“, sagt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber, der mit ihm lange über die Richtlinie zur Harmonisierung der Finanzmärkte verhandelt hat.

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