Mit voller Kraft ins Nirgendwo Solche Sozialdemokraten braucht niemand mehr

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Der neue Fortschritt ist grün

Wollten die Sozialdemokraten diese Klientel zurückgewinnen, müssten sie sich deren Bedürfnissen anpassen und sich als linkskonservativ umdefinieren. Den Job übernimmt in Frankreich der Front National, in Deutschland teilweise die Linke und teilweise die AfD. Der alten Tante SPD fällt es, wie allen auf Offensive getrimmten Organisationen offenbar unendlich schwer, auf Verteidigung des Erreichten umzustellen. Man ist eben von Kopf bis Fuß auf Fortschritt eingestellt. Statt den angestammten Wählern zu folgen und das alt hergekommene, sinnentleerte Fortschrittsmotiv aufzugeben, beschwört man es immer wieder neu und wartet, dass das alte Werden noch etwas unter den sterbenden Flügeln vorbrütet.

Aber wen kann man in saturierten, sozial befriedeten Gesellschaften mit dem Begriff des „Fortschritts“ und der Aussicht auf mehr „Bewegung“ noch begeistern? Wer hat ein Interesse daran?

Wird die AfD langfristig erfolgreich sein?

Die kreativen Köpfe möglicherweise. Erfinder und Gründer, die mit neuen Produkten die Lebenswelt anderer Menschen prägen wollen und die Chance haben, noch reicher zu werden. Diese innovativen Menschen, die allein aus demografischen Gründen weniger und volkswirtschaftlich immer wertvoller werden, identifizieren sich mit einer Gesellschaft „in Bewegung“ und wählen womöglich eine Partei, die den weiteren Fortschritt befördert. Aber ihnen wird dafür vermutlich nicht in erster Linie die SPD in den Sinn kommen.

Das – noch – lebendigste Programm der alten Expansionsdynamik des 20. Jahrhunderts betreiben mittlerweile die Grünen. Deren Vordenker Ralf Fücks ist einer der wenigen Parteipolitiker Deutschlands, der mehr als Macht- und Tagespolitik im Sinn hat. Er verbindet in der Formel des „grünen“ oder „intelligenten“  Wachstums die beiden letzten großen politischen Ideen Europas: Den ausgeleierten Wachstumsökonomismus verjüngt er durch ökologische Ethik.

Dazu kommt noch etwas Revoluzzerromantik: Wir stünden „an der Schwelle einer weltweiten grünen Revolution.“ Daraus leitet Fücks das Versprechen eines „Grünen New Deal“ ab: „Mit einer radikalen Umstellung von Energie, Verkehr, Städtebau, mit hocheffizienten Technologien und intelligenten Stoffkreisläufen können wir Wohlstand für bald 9 Milliarden Menschen schaffen und zugleich die natürlichen Ressourcen schonen.“

Reich werden und die Welt retten

Dieses Versprechen beruht zwar im Wesentlichen auf einer Anmaßung, um nicht zu sagen: einer Lüge. Denn ein Wirtschaftswachstum ohne den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen ist, wie Fücks‘ Kritiker ihm zu Recht vorhalten, ein Widerspruch in sich selbst. Eine „abfallfreie Kreislaufökonomie“ ist schließlich, wenn der Kreis wirklich geschlossen wird, keine wachsende Ökonomie mehr.

Doch Unerfüllbarkeit war noch selten ein schlagendes Argument gegen große politische Träume. Die begrünte Wachstumswirtschaft ist, was Sozial- und Christdemokraten allen dynamischen Phrasen zum Trotz nicht zu bieten haben: ein schmackhaftes politisches Ziel. Denn es baut auf die beiden stärksten Antriebe des politischen Handelns: das materielle Eigeninteresse und den moralischen Idealismus. Die Vorstellung, weiter wachsenden Wohlstand mit gutem grünem Gewissen zu verbinden, dürfte durchaus noch ein gewisses Mobilisierungspotenzial in den alternden Gesellschaften Mitteleuropas besitzen. Reich werden und dabei Gutes tun, ja, die Welt retten – die ultimative Win-Win-Situation. Danach, nicht nach der Bewegung um ihrer selbst Willen, dürstet es den europäischen und vor allem den deutschen Wohl- und Anstandsbürger.

Ein neuer, linker Konservatismus zum Schutze der sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts und ein mit grünen Zielen verjüngter Fortschritt: Das dürften die lebendigsten politischen Pole der kommenden Jahre werden. Die Sozialdemokratie wird dazwischen niemand vermissen.

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