Mit voller Kraft ins Nirgendwo Solche Sozialdemokraten braucht niemand mehr

Seite 2/3

Europa - der ängstliche Kontinent

In der ersten Jahrhunderthälfte erfanden sozial motivierte Ökonomen das Bruttosozialprodukt als Maßeinheit des Wirtschaftswachstums. In der zweiten Jahrhunderthälfte brachten sie den Politikern bei, wie man die Wirtschaft wachsen lässt und seine Früchte gerecht verteilt. Hierbei wetteiferten in ganz Westeuropa christ- und sozialdemokratische Parteien um den besten Wachstumspfad. Das war ganz konkreter Fortschritt und befriedigte ein paar Jahrzehnte lang alle Schichten der europäischen Völker. In Frankreich spricht man von den „trentes glorieuses“, den glorreichen dreißig Jahren.

Der Anteil der Sozialdemokraten an diesem Wunderwerk der politischen Ökonomie war vor allem die Einlösung des Versprechens der „sozialen Mobilität“. Arbeiter und Kleinbürger sollten mehr Wohlstand erwerben und in höhere gesellschaftliche Positionen vordringen können als ihre Eltern. Die Klassengesellschaft sollte friedlich überwunden werden. Dieses Versprechen ist wahr geworden. Facharbeiter besitzen heute Mittelklassewagen. Der Sohn einer Putzfrau ist Bundeskanzler geworden.

Die SPD verliert in der Wählergunst und rutscht zum ersten Mal unter die Marke von 20 Prozent. Aber auch andere Parteien verlieren.

In diesem Zeitalter war Fortschritt für die kleinen Leute etwas Gutes. Er machte sie größer. Eine unglaubliche, wunderbare zivilisatorische Leistung, auf die die etablierten deutschen Parteien stolz sein können. Aber diese historische Aufgabe, die das 20. Jahrhundert stellte, ist nun einmal erfüllt. Mission accomplished!

Sind die goldenen Jahre vorbei?

Der „kleine Mann“, der auch dank christ- und sozialdemokratischer Politik seit einigen Jahrzehnten nicht mehr ganz so klein ist wie seine Vorfahren, erwartet von zusätzlichem Fortschritt nicht mehr viel Gutes. Vor allem nicht, wenn unter Fortschritt in erster Linie das Wachstum des Bruttosozialprodukts verstanden wird.

Die Ansicht, dass die Mehrung des materiellen Wohlstands nicht einfach so weitergehen kann wie in der großen Zeit der christ- und sozialdemokratischen Volksparteien, sickert allmählich ins Bewusstsein der Wähler durch. Vom Wirtschaftswachstum der letzten zwanzig Jahre blieb nämlich nicht viel beim Durchschnittsverdiener hängen – zumindest ist das dessen vorherrschender Eindruck. 67 Prozent der Deutschen glauben einer Infratest-Umfrage von 2013 zufolge nicht, dass sie vom Wirtschaftswachstum profitieren. Dagegen steigen mit jedem weiteren Schritt auf dem vorgezeichneten Fortschrittspfad, mit Wachstumspaketen, Euro-Rettungsaktionen und einer waghalsigen Geldvermehrungspolitik der EZB die Risiken für die kleinen Leute und die spürbaren Schäden an der Natur.

In Westeuropa, wo der Traum vom „Wohlstand für Alle“ und der totalen Offenheit der begehrten Positionen für Menschen jeder Herkunft weitestgehend realisiert ist, wirken die Beschwörungen neuer Dynamik daher zunehmend wie aus der Zeit gefallen. Gerade bei den abhängig beschäftigten Durchschnittsverdienern und potentiellen Volksparteiwählern löst die Aussicht auf sozio-ökonomische Dynamik eher Angst als Zukunftslust aus.

Eine ehrliche Sozialpsychologie des Europäers kann nur zu der Diagnose kommen, die Ralf Fücks, Leiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung kürzlich stellte: „Europa ist heute der zukunftsängstliche Kontinent. Nirgendwo ist die Überzeugung so verbreitet, dass die goldenen Jahre der Vergangenheit angehören.“ Wie sollte es auch anders sein: Europa wird von alternden, schrumpfenden, geschichtssatten, politisch ermüdeten Völkern bewohnt, die einen Wohlstand genießen, um den sie von den jüngeren Bewohnern der angrenzenden Regionen beneidet werden.

Die Kassiererin im Supermarkt, der gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter, der Angestellte, also das klassische Wählerklientel der Sozialdemokraten, ahnen auch, dass sie nicht zu den Gewinnern der ökonomischen Dynamik gehören werden, die möglicherweise von Millionen Neuankömmlingen auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst wird. Sie haben eher Angst, das erreichte Niveau an sozialen Sicherheiten werde dadurch zwangsläufig sinken. Solche Menschen fühlen ihre Interessen heute eher von Rechtspopulisten vertreten.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%