
Heikler Verfassungsstreit: Das höchste britische Gericht wird an diesem Dienstag verkünden, ob die Regierung den Brexit ohne Einschaltung des Parlaments in Gang setzen darf. Das Urteil des Supreme Courts in London dürfte vor allem Einfluss auf den Zeitplan der Trennung von der Europäischen Union haben.
Die entscheidende Frage lautet: Benötigt die Regierung die Zustimmung der Parlamentarier, bevor sie die Erklärung zum Austritt aus der Europäischen Union in Brüssel einreicht? Auch die Regionalparlamente von Schottland, Wales und Nordirland fordern ein Mitspracherecht.
Ein Urteil des High Courts hatte dem Parlament zuvor das letzte Wort über die Austrittserklärung zugesprochen. Premierministerin Theresa May hatte dagegen Berufung eingelegt. Britische Medien gehen davon aus, dass das erste Urteil bestätigt wird.
Was der Abschied der Briten bedeutet
Er gilt als das Herzstück der Europäischen Union seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 und der Europäischen Zollunion 1968. Großbritannien trat 1973 bei. Vollendet wurde der Binnenmarkt mit dem Vertrag von Maastricht 1992. Als Eckpfeiler gelten die „vier Freiheiten“: Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Das heißt, die gut 500 Millionen EU-Bürger können in den 28 EU-Staaten kaufen, arbeiten und investieren, wo sie wollen.
Die EU-Länder erkennen gegenseitig ihre Regeln an und alle gemeinsam die EU-Richtlinien und Verordnungen. Die EU-Kommission ist die Überwachungsinstanz. Sie maßregelt Länder, die den Wettbewerb verzerren, ob nun mit Subventionen oder unfairen Steuervorteilen. Auch Kartelle nimmt Brüssel regelmäßig ins Visier. Üblich sind millionenschwere Bußgelder. Die EU-Gerichte bieten einen Rechtsweg.
Die 28 EU-Staaten machen dank gemeinsamer Regeln und Zollfreiheit untereinander weit mehr Geschäfte als mit Partnern außerhalb der Gemeinschaft. So hatte allein der Warenverkehr untereinander 2015 laut der Statistikbehörde Eurostat ein Volumen von 3,07 Billionen Euro - 71 Prozent mehr als mit dem Rest der Welt. Deutschland hat einen Anteil von gut einem Fünftel: 22,6 Prozent aller Warensendungen innerhalb der EU kommen aus Deutschland, 20,9 Prozent aller in der EU verschifften Güter enden dort.
Der Handel in der EU ist für Großbritannien weniger wichtig als für die Bundesrepublik. Sein Anteil an den innerhalb der EU versendeten Güter lag laut Eurostat 2015 bei 10,2 Prozent. Es ist auch das einzige Mitgliedsland, das innerhalb der EU weniger Handel treibt als mit Drittstaaten - gemessen jeweils an Aus- und Einfuhren zusammen.
Großbritannien bezieht trotzdem rund die Hälfte seiner importierten Waren aus der EU und liefert auch etwa die Hälfte seiner Exporte dorthin, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2015 analysierte. Noch bedeutender sind britische Dienstleistungen: Hier erwirtschaftete das Königreich 2014 laut IW in der EU einen Überschuss von 19,1 Milliarden Euro, vor allem mit Finanzdienstleistungen. Eng verwoben sind beide Seiten auch in Wertschöpfungsketten. Es werden eben nicht nur fertige Produkte gehandelt, sondern auch Teile und sogenannte Vorleistungen. Hier könnte sich ein Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt besonders negativ auswirken, schließt das IW.
Die britische Regierung sieht die wirtschaftlichen Vorteile und würde sie gerne weiter nutzen. Eine der vier Freiheiten macht ihr jedoch politisch zu schaffen: die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern. Allein aus Polen kamen insgesamt 870 000 Menschen. Die Brexit-Befürworter beklagen den Druck auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und wollen die Freizügigkeit stoppen. Die übrigen EU-Länder geben sich aber lhart: Zugang zum Binnenmarkt gebe es nur mit allen vier Freiheiten, „Rosinenpicken“ komme nicht in Frage.
Großbritannien ginge der ungehinderte Zugang zu einem Markt mit knapp 450 Millionen Menschen verloren. London hätte dafür bei Subventionen und Steuervorteilen freie Hand und könnte Kapital anlocken. Bei einem Ausscheiden aus der Zollunion wären wieder Zölle zwischen Großbritannien und dem Kontinent denkbar. Das Königreich könnte auch mit eigenen Handelsbündnissen, etwa mit den USA, der EU eins auswischen. Wahrscheinlich ist jedoch eine Verhandlungslösung. Premierministerin May sagte am Dienstag, sie wolle den weiteren Zugang zum Binnenmarkt mit einem „umfassenden Handelsabkommen“ sichern. Ein Zollabkommen wolle sie ebenfalls. IW-Brexit-Experte Jürgen Matthes erwartet ein Geben und Nehmen, das heißt, je mehr EU-Einfluss Großbritannien zulässt, desto mehr Marktzugang kann es erwarten. Kommen beide Seiten nicht überein, wären sie immerhin noch über die Welthandelsorganisation WTO verbunden.
Die Regierung befürchtet in dem Fall zweierlei: Zum einen könnte der Brexit möglicherweise inhaltlich etwas aufgeweicht werden, da das Parlament mehrheitlich als EU-freundlich gilt. Zum anderen könnte der Zeitplan durcheinandergeraten. Für diesen Fall hat die Regierung den Berichten zufolge einen sehr kurzen Gesetzestext vorbereitet, der schnell durch das Parlament gebracht werden soll.
Es ist aber auch möglich, dass das Gericht dem Parlament kein Mitspracherecht gewährt oder den Fall an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg weiterleitet. Letzteres gilt aber als unwahrscheinlich.
May hatte angekündigt, die Austrittserklärung bis zum 31. März nach Brüssel zu schicken. Erst dann können die Verhandlungen mit der EU beginnen. May wollte das Parlament vorher nicht befragen. Das Votum des Volkes beim Referendum im Juni 2016 reiche aus, argumentiert sie. Damals hatte sich eine knappe Mehrheit für den Austritt entschieden.
Es gibt Anzeichen, dass May im Parlament keine Niederlage zu befürchten hat. Die Mehrheit der Abgeordneten hatte sich in einer nicht bindenden Abstimmung bereits dafür ausgesprochen, den Beginn der Austrittsverhandlungen nicht zu verzögern.
Experten glauben aber, dass das Gericht es May nicht einfach machen wird. Die Richter könnten gewisse Vorgaben machen, um zu verhindern, dass die Regierung sich einen Blanko-Scheck ausstellen lässt, meint Jo Murkens von der London School of Economics and Political Science. „Es gibt immer noch viele verfassungsrechtliche Hindernisse zu überwinden“, bevor die Scheidung eingereicht werden könne. „Ich denke das Gericht wird diese Hindernisse ansprechen“, sagte der Verfassungsexperte der Deutschen Presse-Agentur.
Mit Spannung wird erwartet, ob die elf Richter des Supreme Courts auch den Regionalparlamenten in Wales, Schottland und Nordirland Einfluss zugesteht. Das wäre wohl die größte Gefahr für Mays Zeitplan. Die Regierung in Edinburgh will so eng wie möglich mit der EU verbunden bleiben. Nach Ansicht des walisischen Regierungschefs Carwyn Jones war das Vereinigte Königreich noch nie so uneins. Nordirland steckt in einer Regierungskrise. Die republikanische Partei Sinn Fein nannte den Brexit eine „feindliche Aktion“. 56 Prozent der Nordiren hatten für den Verbleib in der EU gestimmt.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Erst vor einer Woche hatte May einen harten Brexit angekündigt. Sie will ihr Land auch aus dem europäischen Binnenmarkt führen. Als erste ausländische Regierungschefin wird sie am Freitag von US-Präsident Donald Trump empfangen. Die Politiker wollen über ein mögliches bilaterales Handelsabkommen sprechen, das schnell zustande kommen soll. Nach einem Bericht der Londoner „Times“ gibt es Hindernisse: Formelle Gespräche darüber seien nach den EU-Regeln nicht vor Vollzug des Brexits möglich. Zudem müsse der US-Kongress ein halbes Jahr vor einem geplanten Handelsabkommen vom Weißen Haus informiert werden.