Nach der Wahl Italien, die größte Baustelle Europas

Quelle: REUTERS

Italien steht nach der Wahl vor Monaten ohne gewählte Regierung. Dabei plagt sich das Land mit drei wirtschaftlichen Großbaustellen herum, die dringend Handlungsbedarf erfordern.

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Für Pietro Fioruzzi waren es zuletzt gute Monate. Der Anwalt in der Mailänder Niederlassung der Wirtschaftskanzlei Cleary arbeitete an einem Land mit, dessen Wirtschaft sich im Aufschwung wähnte. Fusionen? Zogen an. Börsengänge? Waren auf Rekordniveau angemeldet. Ausländische Investoren? Drängten plötzlich Italien fast schon ihr Geld auf. Und dann wacht Fioruzzi am Montagmorgen auf und es ist, als betrete der Anwalt eine neue Welt. „Die Wirtschaftsstimmung und die Stimmung der Leute ist leider unterschiedlich“, sagt er. 

Das haben die Italiener am Sonntag in harten Zahlen mitgeteilt. Da strömten sie reger als erwartet, die Wahlbeteiligung lag bei knapp 75 Prozent, an die Wahlurnen und teilten Politik und Wirtschaft mit: Basta! Es reicht. In einem in westlichen Industrieländern nie gekannten Maß stimmten die Italiener für Protest. Mal für eher bunten, in Form der stärksten Partei Cinque Stelle; mal für rechten, in Form der drittstärksten Partei Lega. 

Zählt man alle Parteien, die sich im weiteren Sinne als populistisch bezeichnen lassen, zusammen, stellen die mehr als die Hälfte der Abgeordneten.

Also ob das für die gerade anziehende italienische Wirtschaft nicht schon hart genug wäre, wird die Lage beim Blick auf die Landkarte noch komplizierter: Die Italienische Republik ist wie mit dem Skalpell in drei Teile geteilt. Der Norden wählt rechts, die Mitte wählt links, der Süden wählt Cinque Stelle. Und zwar einheitlich. Das heißt: In Wirklichkeit gibt es nicht ein Italien, sondern drei. Wer sich die jeweiligen Schwerpunkte der Wahlgewinner anschaut, verliert jede Phantasie, wie dieses Land zu einer Regierung finden soll. Angesichts der nachhaltigen wirtschaftlichen Probleme des Landes, wirkt die vergleichsweise ruhige Reaktion der Märkte auf das Ergebnis fast ein wenig sonderbar. 

Das zersplitterte Land

Italiens größte Arbeitgeberorganisation Confindustria hat nach der Parlamentswahl ein verantwortungsbewusstes Verhalten der Parteien gefordert. Das Ergebnis der Abstimmung zeige, dass nur eine auf Wachstum angelegte Wirtschaftspolitik die Probleme Italiens lösen könne, teilte der Verband am Montag mit. Eine Politik im Interesse des Landes garantiere Stabilität und Regierbarkeit, hieß es weiter. Nur, wie soll das funktionieren, wenn jede der großen Regionen des Landes ganz offenbar eigene Schwerpunkte setzt. 

Nun war Italien, trotz des Risorgimento, als der Einigung Italiens im 19. Jahrhundert, nie das einheitliche Land, als dass es seine Gründer um Giuseppe Garibaldi es sahen. Schon immer gab es gerade in den Regionen nördlich von Florenz eine starke Tendenz, sich vom Rest des Landes – des verschrienen Mezzogiorno im Süden – möglichst strikt abzugrenzen. Doch eine solch klare Aufspaltung hat das Land noch nie gesehen. 

„Das zeigt, welche Themen die Menschen bewegen. In Süditalien ist es die Hoffnungslosigkeit, wegen derer sich die Menschen von etablierten Parteien abwenden. Ich denke, in Norditalien ist es vor allem das Flüchtlingsthema“, sagt Emanuele Gatti, Chef der Italienischen Handelskammer in Deutschland

Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Es gibt nicht das eine Rezept, mit dem sich die Millionen Protestwähler so leicht von ihrer Protesthaltung abbringen lassen. Stattdessen droht dieses Wahlergebnis in einer Überbietung der Klientelgeschenke zu enden. Wer die Wähler im Süden von den Cinque Stelle einfangen will, verspricht einen Ausbau der Arbeitslosigkeit und mehr staatliche Investitionen. Wer die Nord-Wähler der Lega einfangen will, bekämpft vor allem die Ursachen der Flüchtlingskrise. Wer den Wählern im Zentrum des Landes, die den sozialdemokratischen Partito Democratico mehrheitlich wählten, genügen will, setzt den behutsamen aber nicht zu sparsamen Kurs der bisher amtierenden Regierung fort.

Die drei wirtschaftspolitischen Herausforderungen

Wie das gehen soll? Das weiß in Italien niemand. Zu offen sind die Widersprüche. Bis auf den PD, der immerhin noch zweitstärkste Einzelpartei wurde, meldeten alle großen Parteien im Laufe des Montags Regierungsansprüche an. Am wahrscheinlichsten ist nun, dass das große Überbieten in Versprechungen, für was man Geld ausgeben könnte, einsetzt, um möglichst viele Partner zu gewinnen. Wegen der heterogenen Interessenslage im Land dürfte das schwierig werden. Dabei steht das Land vor drei ökonomischen Großbaustellen, die dringend bearbeitet werden müsste: 

Da ist etwa die Staatsschuld, die 132 Prozent des Bruttoninlandsproduktes beträgt. Es gibt einen von Finanzminister Pier Carlo Padoan verabschiedeten Plan zu deren Rückbau. Nur ist dieser Plan mit den Wahlen obsolet. Und er lebte davon, dass die Zinsen niedrig und die Risikoaufschläge für Staatsanleihen ebenso moderat bleiben. Womit Italiens politische Hängepartie auch zum Problem für die Euro-Zone wird.  Die Versprechen der „Fünf-Sterne“-Protestbewegung etwa mit konstantem Haushaltsdefizit und Verringerung der Staatsschulden setzen ein jährliches nominelles Wachstum von sieben Prozent voraus. Zudem muss Italien dieses Jahr ohnehin 55 Milliarden Euro neu finanzieren, rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die EU-Regeln zur Verschuldung? Sparmaßnahmen? „Scheißegal“, sagte Lega-Chef Matteo Salvini, der sich als neuer Regierungschef in Rom sieht, im Verlauf des Montags. 

Fast noch schwerer wiegt das zweite Großproblem: Zwar siedelt im Norden des Landes eine mittelständisch geprägte Unternehmenslandschaft, mit der in Europa allenfalls Schwaben mithalten kann, nur übertüncht selbst sie die Schwäche nicht. Südlich davon darben die Firmen. Im Jahr 2016 etwa ging die Produktivität um 0,4 Prozent zurück. Seit 1995 stieg sie nur um 0,3 Prozent.

Szenarien nach unklarem Wahlausgang

Das liegt an maroden Industrien, von denen sich keine Regierung verabschiedete. Das Stahlwerk Ilva im apulischen Tarent etwa will die Regierung erhalten, weil im abgekoppelten Süden sonst 10 000 Arbeitsplätze gefährdet wären. Die Fluglinie Alitalia wiederum wurde bereits staatlich aufgefangen. Beide Fälle müsste eine Regierung entscheiden. Nur: Solange keine neue im Amt ist, wird sich nichts tun. Zwei Zombiefirmen leben weiter.

Damit aber dürfte auch das dritte Problem ungelöst bleiben: In Italien wächst eine Generation der Hoffnungslosen heran, weil der Wirtschaft vor allem im Süden des Landes jede Dynamik fehlt. Im Kalabrien, Kampanien oder Sizilien sind mehr als 30 Prozent der unter 30-Jährigen arbeitslos. Keine Partei – weder Mitterechts noch Mittelinks – hat das bisher in den Griff gekriegt. Folge: Allein in 2017 wanderten mehr als 300.000 Italiener ins Ausland ab. 

Es entsteht eine starre Gesellschaft. Der Ökonom Gianluca Violante hat anhand von Statistiken über die Einkommensteuer der Italiener erforscht, wie sich der soziale Status innerhalb von zwei Generationen unterscheidet. „Warum ist das interessant?“, fragt Violante. „Weil sozialer Aufstieg Ausweis einer Gesellschaft im Fluss ist.“ Violantes Ergebnis: In Italien ist nichts im Fluss, es gibt so gut wie keine Aufstiegsgeschichten. Italiens Eltern sind so wohlhabend, wie ihre Kinder nicht werden. Kaum ein junger Italiener schafft es, sich im Vergleich zu den Eltern zu verbessern. Jüngere Italiener lernen so von Beginn an, sich vor allem auf die eigene Familie zu verlassen – sie haben schlicht keine andere Möglichkeit. So entsteht aus den ersten beiden wirtschaftlichen Problemen wiederum die Basis für Protestparteien. Ein Teufelskreis. 

Wie geht es weiter?

Zwar versuchen vor allem wirtschaftsnahe Italiener das Chaos klein zu reden. Ganz wohl ist ihnen aber nicht. Giovanni Zanni, Ökonom der Credit Suisse, sagt: „Wir erwarten allenfalls kurzfristig negative Reaktionen der Märkte. Auf mittlere Sicht gehen wir davon aus, dass Paolo Gentiloni als eine Art Babysitter-Ministerpräsident im Amt bleibt und für Stabilität sorgt.“ Und weiter: „Fakt ist: Die moderaten Parteien der Mitte haben zunächst keine Mehrheit, die radikalen Protestparteien doch.“

Wirtschaftsanwalt Fioruzzi fürchtet auch: „Investoren werden zunächst mal schauen und es kann schon sein, dass sie eine Zeit lang Investitionen zurückhalten und einige IPOs verzögert werden.“ Auch die bereits angelaufenen Privatisierungsprozesse für die staatliche Post und die Zuggesellschaft dürften zunächst stocken. 

Wie es nun weitergeht? Die beiden Kammern des Parlaments kommen erstmals am 23. März zu einer Sitzung zusammen. An diesem Tag sollen die Präsidenten des Senats und des Abgeordnetenhauses gewählt werden. Erst danach beginnen eventuelle Koalitionsverhandlungen. Hier kommt Staatspräsident Sergio Mattarella eine tragende Rolle zu, der alle parlamentarischen Gruppen zu Gesprächen einlädt - das könnte Ende März oder Anfang April passieren. Er muss dann abwägen, wer die besten Chancen hat, eine Regierung zu bilden. Er wählt dann eine Person, die diese Aufgabe übernehmen soll. In Italien muss ein Regierungschef nicht notwendigerweise Parlamentsmitglied sein. Falls sich keine Lösung findet, kann Mattarella das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. 

Fioruzzi fasst seinen Tag so zusammen: „Wir sind enttäuscht, aber optimistisch. Am Ende ist Italien sehr konservativ. Auch wenn es diese zwei populistischen Parteien gibt, wird sich zunächst einmal nicht so wenig ändern.“

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