Über Nawa hängen Anfang dieser Woche schwere, dunkle Rauchwolken. Russland fliegt Luftangriffe auf die Stadt im Süden Syriens, wo der Aufstand gegen Diktator Baschar al-Assad 2011 losbrach, um den Einmarsch regimetreuer Truppen zu flankieren.
Zehntausende Einwohner ergreifen die Flucht, doch die jordanische Grenze, die nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt liegt, bleibt geschlossen. Jordanien hat seit Beginn des Bürgerkriegs rund 600.000 geflüchtete Syrer aufgenommen und ist völlig überfordert.
Mehr als 4000 Kilometer entfernt, in Brüssel, kommen dieser Tage Europas Staatenlenker zum Asyl-Gipfel zusammen. Mehr als 68 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – ein Bruchteil von ihnen kommt nach Europa. Das Gros flüchtet innerhalb ihres Heimatlandes oder bleibt in der Region – wie die Syrer, die Zuflucht in Jordanien suchen.
Die EU-Gipfelbeschlüsse zur Migration
Ausdrücklich wird betont, dass das Migrationsthema nur gemeinsam in der EU gelöst werden kann. Der „unkontrollierte Zustrom“ des Jahres 2015 soll sich nicht wiederholen und die illegale Migration auf allen Routen soll bekämpft werden.
Vor allem auf Drängen Italiens und Frankreichs wurde beschlossen, dass in der EU ankommende Flüchtlinge und Migranten in geschlossenen Zentren untergebracht werden sollen. Ähnlich wie bei den in Deutschland angedachten Ankerzentren sollen in den EU-Staaten mit Außengrenzen dort die Asylanträge geprüft werden, um zu entscheiden, wer in der EU bleiben darf und wer sie wieder verlassen muss. Die Einrichtung solcher Zentren ist freiwillig, was sie in Italien mit seiner rechtsgerichteter Regierung wahrscheinlich macht, ohne etwa Spanien zu zwingen, sie ebenfalls einzurichten. Zudem wird EU-Unterstützung für diese Zentren zugesagt.
Weiter offen bleibt die von Italien wie auch von Deutschland eingeforderte Verteilung schutzbedürftigter Flüchtlingen auf andere EU-Staaten. Erneut gelang es nur, in allgemeiner Form „Solidarität“ einzufordern, was vor allem am Widerstand der osteuropäischen Staaten dagegen liegt.
Geprüft werden sollen zudem Auffanglager für Migranten in Drittstaaten, etwa Nordafrika. In der EU-Sprache werden diese „regionale Anlandungszentren“ genannt, die in enger Zusammenarbeit mit Drittstaaten sowie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Migrations-Organisation (IOM) funktionieren sollen. Dort sollen Schutzersuchen „unter Wahrung internationalen Rechts“ geprüft werden. Dadurch erhofft man sich eine abschreckende Wirkung auf Migranten, weil sie vor der EU abgefangen werden sollen. Umstritten ist, ob diese Vorentscheidungen den Anspruch auf Asyl in der EU faktisch unterlaufen.
Der EU-Gipfel gibt die zweite Tranche für die Umsetzung des EU-Türkei-Migrationsabkommen frei, so dass die Türkei mit der Zahlung von weiteren drei Milliarden Euro in den kommenden Jahren rechnen kann. Das Geld fließt nicht an die Regierung, sondern direkt in Projekte zur Betreuung und Versorgung von Millionen syrischer Flüchtlinge, die das Land aufgenommen hat.
Die EU stockt die Hilfe für afrikanische Länder auf. Dafür sind 500 Millionen Euro vorgesehen. Generell wird die Notwendigkeit betont, mit den afrikanischen Ländern enger zusammenzuarbeiten, um Fluchtursachen zu bekämpfen.
Die EU-Staaten bekennen sich zu einer weiteren Stärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Zwar taucht das von Kanzlerin Angela Merkel genannte Zieldatum von 2020 nicht in der Schlusserklärung auf. Aber die EU-Staaten sagen mehr Geld und erweiterte Mandate für einen effektiven Außengrenzschutz zu.
Die CSU schielt vor allem auf den Paragrafen 11 der Abschlusserklärung, in dem die sogenannte Sekundärmigration angesprochen wird. Damit ist die Wanderung von Flüchtlingen und Migranten gemeint, die in einem EU-Außenstaat registriert werden, aber dann etwa in Deutschland Asyl beantragen. Zwar regelt bereits das Dublin-III-Abkommen, dass Asylverfahren im Prinzip in den Registrierländern durchgeführt werden müssen, aber der Prozess ist langwierig und scheitert in vielen Fällen. Deutschland hat in den ersten vier Monaten 2018 bereits mehr als 3500 solcher Personen zurückgeschickt. Nun sagen alle 28 Regierungen zu, die nötigen administrativen und gesetzlichen Vorkehrungen zu schaffen, um diese Binnenmigration in der EU zu stoppen. Dies würde vor allem Deutschland entlasten.
Das Ergebnis des Gipfels nach zwölfstündigen Verhandlungen: Die 28 EU-Staats- und Regierungschefs haben sich auf eine gemeinsame Asylpolitik geeinigt – der Anteil derer, die nach Europa kommen, soll künftig noch geringer werden. Die Mitgliedsstaaten einigten sich auf einen verstärkten Schutz der EU-Außengrenze und eine intensivere Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten. Beispielsweise will die EU die Ausbildung der libyschen Küstenwache verstärken. Auf freiwilliger Basis sollen gemeinsame Asylzentren innerhalb der EU errichtet werden, von wo aus Geflüchtete, die einen positiven Asylstatus erhalten, auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden. Zudem sollen „disembarkation platforms“ geprüft werden – zu Deutsch: „Ausschiffungsplattformen“. Dabei wolle die EU mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration zusammenarbeiten. Was unter den Ausschiffungszentren genau zu verstehen ist, ist offen.
„Wir unterstützen keinerlei Vorschläge, den Asylprozess zu verlagern, wenn das zum Ziel hat, die Verantwortung abzuschieben und Asyl in Europa einzuschränken“, sagte William Spindler, der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, im Vorfeld des EU-Gipfels.
EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte im Zusammenhang mit den Ausschiffungszentren: „Manche denken, ich sei in meinen Migrationsvorschlägen zu hart“, aber wenn es keine Einigung gäbe, würden andere härtere Vorschläge machen. Österreichs Ministerpräsident Sebastian Kurz begrüßt im ORF Radio, dass „Anlandezentren außerhalb der Europäische Union vorgesehen sind“. Entscheidend sei, ob aus dem Mittelmeer gerettete Menschen nach Europa gebracht würden oder außerhalb blieben. „Wir sind für die zweite Variante. Und das wird mit diesem Text zumindest erstmals in der Theorie möglich.“ Beides spricht dafür, dass die „Ausschiffungsplattformen“ Asylzentren außerhalb der EU sein könnten.
Den Vorschlag, den Asylprozess jenseits der EU-Grenze zu verlagern, etwa nach Albanien oder Nordafrika, hatte Österreich im Vorfeld des Gipfels aus der Mottenkiste geholt. Die Idee dahinter: Im Meer gerettete Geflüchtete sollen nicht mehr in EU-Länder gebracht werden, sondern in solche Zentren. Dort soll dann entschieden werden, ob sie einen Schutzstatus in Europa erhalten oder nicht. Soweit die Theorie.
Erstmals hatte Dänemark 1986 diesen Vorschlag in die Debatte eingebracht, die Zentren sollten damals von der Uno betrieben werden. Unter wechselnden Labels hat die immergleiche Idee Karriere gemacht: 2003 forderte Großbritannien „Protection Zones“ und „Transit Processing Centers“. 2004 wollte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) Aufnahmeeinrichtungen außerhalb Europas. Zehn Jahre später forderte Thomas de Maizière (CDU), ebenfalls Ex-Bundesinnenminister, „Willkommens- und Ausreisezentren“ für Asylsuchende in Nordafrika. Und nun eben Österreich.
In die Tat umgesetzt wurde diese mehr als 30 Jahre alte Idee bis dato nicht, aus guten Gründen. Mehrdad Mehregani vom Programm „Integration und Bildung“ der Bertelsmann Stiftung hat sich mit seiner Kollegin Klaudia Wegschnaider mit solchen Zentren auseinandergesetzt. Ihr Ergebnis: Die Asyllager außerhalb der EU lösen keine Probleme und sind kaum realisierbar, auch weil Staaten in Afrika kein Interesse daran haben dürften, solche Lager auf ihrem Staatsgebiet zuzulassen. „Gebraucht werden stattdessen praktikable und nachhaltige Lösungen“, sagt Mehregani.
„Geflüchteten in Erstaufnahmeländern Perspektive zeigen“
Menschen, die aus nachvollziehbaren Gründen aus ihrer Heimat flüchteten – vor Dürre, Armut, Hunger oder Perspektivlosigkeit – die aber nach der aktuellen Rechtslage keinen offiziellen Schutzstatus in Europa erhielten, würden solche Zentren ohnehin meiden, glaubt Mehregani. „Würden sie auf dem Mittelmeer aufgegriffen, müssten sie befürchten, dass sie in solchen Lagern festgesetzt werden“, sagt er. In der Folge wären diese Menschen stärker von Schleppern abhängig und würden noch gefährlichere Routen über das Mittelmeer wählen, um nicht gefasst zu werden.
Schon jetzt steigt die Quote derer, die im Mittelmeer ertrinken – und das obwohl die Zahl derer, die über das Mittelmeer flüchten, insgesamt rückläufig ist. Ertranken 2016 noch mehr als 5000 Menschen im Mittelmeer, waren es ein Jahr später „nur“ noch 3100. In Relation betrachtet sieht das allerdings anders aus: 2015 ertranken von 1000 Menschen vier, 2017 waren es 18, im ersten Halbjahr 2018 sind es 23 von 1000 – das ergeben Zahlen der UNHCR. Setzten sich die Zentren durch, dürfte diese Quote weiter steigen.
Aus Sicht von Mehregani wäre es stattdessen nötig, diejenigen Staaten, die die Hauptlast der weltweiten Flüchtlingsbewegung tragen, etwa Libanon oder Jordanien, stärker finanziell zu unterstützen – denn die Menschen suchen in der Regel in ihrer Heimatregion Schutz. „Bildungsangebote für Geflüchtete in den Erstaufnahmeländer hätten eine starke Signalwirkung und würden ihnen dort eine Perspektive aufzeigen“, sagt Mehregani.
Die gleiche Wirkung hätte es, wenn die EU helfen würde, Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen. „Hier liegen Hilfspotentiale, die Europa noch lange nicht ausgeschöpft hat. Für viele Geflüchtete scheint es derzeit unumgänglich, sich für ein Leben in Sicherheit über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa zu machen. Durch mehr Unterstützung für die Erstaufnahmeländer könnte sich das ändern.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung am Donnerstag zudem vorgeschlagen, afrikanischen Staaten mehr Studienplätze und Arbeits-Visa anzubieten, damit nicht mehr so viele ihr Leben auf Schlepperbooten riskieren. „Das ist ein weiterer Baustein“, sagt Mehregani. Wichtig sei es aber, dass Arbeitsmigration nicht nur für hochqualifizierte Akademiker möglich sei, sondern auch für Facharbeiter sofern es die Bedürfnisse der europäischen Arbeitsmärkte erlauben.
Parallel dazu müsste das Resettlement-Programm der UNHCR ausgeweitet werden, um Menschen, die in ihrer Heimatregion keine Perspektive haben – etwa weil sie besondere medizinische Behandlung benötigen – ein Leben in Würde zu ermöglichen. Geflüchtete, die über das Resettlement-Programm nach Europa, Kanada oder in andere aufnahmewillige Länder kommen, erhalten einen Aufenthaltstitel und müssen kein Asylverfahren durchlaufen.
„Das Verfahren hat große Vorteile“, sagt Mehregani. „Die besonders Schutzbedürftigen kommen so sicher und in einem geregelten Verfahren beispielsweise nach Europa oder Kanada. Und die aufnehmenden Staaten behalten die Kontrolle darüber, wen sie aufnehmen wollen.“ Allerdings gibt es bei weitem nicht genug Plätze, beklagt die UNHCR. Bis dato hat Europa 30.000 Personen über Resettlementverfahren aufgenommen – aktuell läuft ein weiteres Programm, das die EU-Kommission im vergangenen Jahr angestoßen hat, über das 50.000 weitere Menschen aufgenommen werden sollen. Verglichen mit den Hunderttausenden, die jedes Jahr Asyl in Europa suchen, ist das allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ob die Ausschiffungszentren letztlich wirklich realisiert werden, ist offen. Dass die Staaten in Afrika und Co. dabei mitmachen, bezweifelt Mehregani allerdings. „Kein Land in Afrika hat sich bis dato dazu bereit erklärt, Asylzentren für Europa zu beherbergen.“ Auch mit Geld dürften sie sich nicht davon überzeugen lassen.
Marokkos Direktor für Migration und Grenzschutz, Khalid Zeraouli, stellte im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP klar, dass das Königreich kein Interesse an solchen Einrichtungen habe. Dies sei „nicht die Lösung“, sagte er. Migranten nutzen Marokko oft als Transitland, um nach Spanien zu gelangen. Albaniens Ministerpräsident Edi Rama, dessen Staat um einen EU-Beitritt buhlt, sagte gegenüber der „Bild“-Zeitung: „Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren.“ Er sei dagegen, „verzweifelte Menschen irgendwo abzuladen wie Giftmüll, den niemand will.“