Nach Unglück in Genua „15 Prozent aller Brücken sind in einem kritischen Zustand“

Die Überreste der Morandi-Autobahnbrücke in Genua Quelle: imago images

Nach dem Einsturz der Morandi-Brücke in der italienischen Hafenstadt Genua erläutert Heinrich Bökamp, Ingenieur und Experte für Brückenbau, die Sicherheitsmängel alter Brücken. Entscheidend seien Politik und Finanzen.

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WirtschaftsWoche: Herr Bökamp, was sind für Sie die möglichen Ursachen für den Einsturz der Brücke in Genua?
Heinrich Bökamp: Manche Experten gehen davon aus, dass die Gründung der Brücke Probleme gehabt hat. Das würde bedeuten, dass das  Fundament unten an den Brückenpfeilern möglicherweise wegen großer Strömung unterspült wurde. Das kann eine Variante sein. Diese Pfeiler bringen aber einen solchen Druck auf den Boden – diesen dann unter dem Pfeiler wegzuspülen, ist nicht ganz so einfach. Die Defizite der Brücke sind außerdem nicht erst seit vorgestern bekannt.

Welche meinen Sie?
Die Brücke hat jetzt  60 Jahre ihre Geschichte getragen. Damals war sie ja für einen ganz anderen Lastzustand gebaut. Dass so viele LKWs über die Brücke fahren, hat damals keiner geahnt. Während Brücken von PKWs im Grunde nichts merken, tun ihnen LKWs nur weh. Wenn solche Schwertransporte über Brücken fahren, merken Sie immer ein leichtes Vibrieren. Um zu untersuchen, wie der Beanspruchungszustand einer Brücke ist, schätzen wir in erster Linie ab, wie viele LKWs in den ganzen Jahren über die Brücke gefahren sind. Das kann man durch Verkehrszählungen relativ genau bestimmen: Wenn ein LKW über eine Brücke fährt, spricht man von ‚einem Lastspiel‘. Und dann gilt: Je höher die Anzahl der Lastspiele, desto riskanter ist der Zustand der Brücke.

Zur Person

Hat man das in Genua nicht geprüft?
Kurz nach Freigabe der Brücke vor 60 Jahren gab es ja schon Diskussionen, ob dies und jenes überhaupt so in Ordnung ist. Mittlerweile stand man auch kurz davor, die Brücke jetzt zu sanieren. Das Problem ist auch die Zeit zwischen der Feststellung, dass eine Brücke saniert werden muss und dem Moment, in dem die Sanierung wirklich greift. Da können Monate, manchmal sogar Jahre dazwischen liegen. Und da müssen wir uns genau überlegen, was wir der Brücke bis dahin noch zumuten können: Wenn die Defizite erkannt sind, fängt die Uhr an zu ticken. Und dann gibt es erstmal eine Menge Bürokratie, zum Beispiel Vergabeverfahren, bis Sie eine Baufirma beauftragt haben. Bis das alles fertig ist, können Jahre vergehen. In der Zeit steht die Brücke da, und das Defizit wächst.

Und dann kann es zu einer solchen Katastrophe kommen?
Genau. Das ist im Grunde wie beim eigenen Auto. Wenn die Werkstatt erkennt, dass Sie schwache Bremsbeläge haben, und Sie nach 100 Bremsmetern auf eigenes Risiko fahren, überlegen Sie auch nicht lange, ob Sie die noch austauschen. Genau so gilt bei Brücken: Sicherheit ist nicht verhandelbar.

Welche Ansätze werden denn unternommen, um die Brücken sicherer zu machen?
Im Moment untersuchen die Landesbetriebe jede einzelne Brücke. Gerade bei älteren Brücken lassen sie auch nachrechnen, welche Verkehrslast sie erlitten haben und in Zukunft noch tragen können. In NRW wissen wir dadurch, dass etwa 15 Prozent aller Brücken in einem kritischen Zustand sind – um die müssen wir uns direkt kümmern. 

Welche zum Beispiel?
Etwa bei der Leverkusener Brücke. Dort hat man den Verkehr schon runtergenommen: Da darf kein LKW mehr fahren. Und schlussendlich muss die neu gebaut werden. 

Welche Rolle spielen Privatisierungen Ihrer Meinung nach?
Privatisierungen sehe ich kritisch, weil es da ja immer mehr um das wirtschaftliche Ergebnis geht. Das lässt sich gut bei den Kommunen sehen, in deren Händen sich die meisten Brücken befinden. Dort ist ja häufig die Frage, ob der zuständige Kämmerer gerade auch das notwendige Geld für die Sanierung übrig hat. Wenn der wegen fehlender Mittel Sanierungen um ein bis fünf Jahre aufschiebt, kann es gefährlich werden. Vielleicht wird man aber nach solchen Einstürzen wie jetzt in Genua wachsamer. Das wäre wünschenswert. Es gibt nämlich keine gesetzliche Pflicht, die Brücken zu untersuchen.

Lässt sich pauschal sagen, wo eher sichere Brücken stehen, und wo marode?
Nein, da der Brückenbau eigentlich schon auf einem sehr hohen Niveau ist. Auch in Italien könnte man nicht pauschal sagen: ‚Die können das einfach nicht‘. Es gibt dafür ja auch mittlerweile ein europäisches Regelwerk, sodass jedes Land in der Lage ist, die sicherheitsrelevanten Informationen zu ermitteln. Es ist viel entscheidender, wie die politische Lage ist und welche Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit man notwendige Sanierungen auch tatsächlich anpacken kann.

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