Rainer Kirchdörfer ist Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik.
Brüssel macht weiter wie gehabt: Als gäbe es keinen Krieg in der Ukraine, keine Eintrübung der Konjunktur, keine Energie- und Rohstoffverteuerungen sowie keine Lieferkettenprobleme läuft die EU-Regulierung unbeirrt weiter. Das zeigen die Vorschriften zur Nachhaltigkeitsberichterstattung. Was Unternehmen für die Nachhaltigkeit tun, müssen sie künftig genau aufschlüsseln und noch detaillierter als bisher berichten. Wie das umzusetzen ist, steht in 13 Standard-Regelwerken, die insgesamt rund 400 Seiten umfassen. Das ist kein Witz, sondern Brüsseler Realität: Das Konvolut soll Pflichtlektüre für Europas Unternehmen werden.
Allein die Vorstellung, dass Unternehmerinnen und Unternehmer Hunderte von Seiten lesen müssen, um zu wissen, wie sie über ökologische, soziale und Governance-Themen Auskunft geben, zeugt von Abgehobenheit. Es ist das jüngste Beispiel für Bürokratie-Wahnsinn der EU. Die großen Konzerne haben ihre Stäbe und können mit der Regelungsflut vielleicht noch umgehen. Doch die Familienunternehmen – 90 Prozent aller Unternehmen in Deutschland – sind in der Verwaltung schlank aufgestellt und werden von überbordenden Anforderungen überfordert. Verpflichtet dazu sind Unternehmen ab 40 Millionen Euro Jahresumsatz und damit trifft es schon Betriebe mittlerer Größe: Das sind 50.000 Unternehmen in Europa.
Schon am Leitgedanken des Gesetzgebers, dass durch mehr Bürokratie dem Klima geholfen wird, ist zu zweifeln. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften reiben sich schon jetzt die Hände ob des lukrativen Zusatzgeschäftes. Doch der Staat sollte Ziele vorgeben und nicht interventionistisch agieren. Tatsächlich mischt er sich immer stärker in das Wirtschaftsgeschehen ein. Ablesbar ist das an einer Flut von Vorschriften und Kontrollen. Kein Unternehmer hat die Zeit, sich mit Bestimmungen von 400 Seiten zu beschäftigten. Doch irgendjemand im Unternehmen muss dies lesen und die internen Abläufe darauf aufbauen.
Der Ausweg wird darin bestehen, Berater hinzuzuziehen und Controller zu beschäftigen. Die Mittel dafür könnten sinnvoller ausgegeben werden. Die Familienunternehmen sind mitten in der ökologischen Transformation und investieren viel Geld in die Umstellung. Sie sind überzeugt davon, dass klimaschonende Produktionsverfahren und Lieferwege in erster Linie durch Innovationen erreicht werden. Dafür benötigen wir Ingenieure und nicht neue Berichtswesen.
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Die Regeln zur Nachhaltigkeitsberichterstattung weisen auf ein Grundproblem hin, das Familienunternehmen immer öfter begegnet. Von der Öffentlichkeit unbemerkt findet eine massive Verschiebung der Machtverhältnisse auf EU-Ebene statt. Denn die neuen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung werden auf dem Weg so genannter „delegierter Rechtsakte“ umgesetzt. Am Parlament vorbei kann die EU-Kommission die Regeln erlassen. Dazu ist kein Gesetzgebungsverfahren notwendig. Im Fall der Nachhaltigkeitsberichterstattung wird ein privates Institut beauftragt, die Standards zu formulieren.
Familienunternehmen machen folgende Erfahrung: EU-Kommission und die beauftragten Organisationen entwickeln ein Eigenleben. Sie sehen ihre Aufgabe darin, möglichst umfassende Regeln zu schaffen und ständig weiter zu ergänzen. Beispiele dafür finden sich etwa auch in der der Kreditwirtschaft. Auch hier sind in den vergangenen Jahren immer neue Organe geschaffen worden, um die Finanzwirtschaft zu überwachen. Herausgekommen ist ein nie gekanntes Ausmaß an Bürokratie und Komplexität. Die Zeche zahlen Verbraucher und Unternehmen.
Ob die Pflicht zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, kleinteilige EU-Taxonomie oder die geplanten Regeln für ein europäisches Lieferkettengesetz – alle diese Vorhaben schnüren unternehmerisches Handeln ein. Jetzt schon lässt sich absehen, dass das vorgesehene EU-Lieferkettengesetz gravierende Folgen haben wird. Die Unternehmen sollen entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette dafür haften, dass menschen- und umweltrechtliche Standards eingehalten werden. Die Vorstellung, ein Unternehmen könne über seine direkten Vertragspartner hinaus Einfluss nehmen, ist jedoch praxisfern und illusorisch. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung rechtzeitig auf diese europäische Gesetzgebung einwirkt.
Die Familienunternehmen sperren sich nicht gegen praxistaugliche Lösungen. Gerade Familienunternehmen, die oft seit Generationen bestehen, bekennen sich zur Nachhaltigkeit. Doch gute Berichterstattung kann sich auch an wenigen Kennziffern festmachen.
In der Diskussion um ein Lieferkettengesetz schlagen die Familienunternehmen vor, dass Behörden Unternehmen in Drittstaaten, die zum Beispiel Menschenrechte missachten, auf eine schwarze Liste setzen. Die Unternehmen müssen dann nur kontrollieren, ob ihre Vertragspartner auf dieser Liste stehen. Leider gibt es in Brüssel wenig Interesse an pragmatischen Lösungen. Stattdessen müssen sich Unternehmen mit einem Übermaß an Regulierung, Kontrollwahn und Detailversessenheit herumschlagen. So bietet Europa wenig Anreize für unternehmerisches Handeln.
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