
Bekommt Europa eine eigene Armee?
Harald Kujat: Das ist eine schöne Utopie.
Sie glauben also nicht dran?
Doch. Aber das ist eher eine Sache von Jahrzehnten als Jahren.
Tatsächlich wird diese Idee schon seit Jahrzehnten diskutiert. Jetzt bringt es EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erneut aufs Tableau und deutsche Amtsträger springen ihm bei. Dass diese Idee gerade jetzt aus der Mottenkiste geholt wird, ist also eine Drohung gegen Kremlchef Wladimir Putin?
Wenn es so wäre, wäre die Idee einer europäischen Armee nicht sehr profund. Außerdem weiß auch Putin, dass der Ukraine-Konflikt nicht so lange dauern wird wie eine europäische Armee aufzubauen. Allerdings ist der Zeitpunkt, in der die Debatte nun wieder hochkocht, schon auffällig.
Also doch ein Muskelspiel Richtung Moskau?
Putin würde sich über eine gesamteuropäische Armee freuen. Denn das würde Europa unabhängiger von der Nato und damit von den USA machen. Denn Russlands eigentlicher Antagonist ist nicht Europa, sondern sind die USA. Von Seiten der EU sind solche Töne daher eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit als Drohgebärde.
Würde eine europäische Armee also zwangsläufig die Nato schwächen?
Das wäre zumindest eine Gefahr. Nicht zu Unrecht fürchten die Amerikaner, dass dort geschaffene Parallelstrukturen Kräfte und Mittel binden. Außerdem ist für die USA der Abstimmungsprozess mit allen Nato-Verbündeten wichtig. Mit einer europäischen Armee hätten sie dann nur noch einen europäischen Ansprechpartner.
Die Idee von der europäischen Armee
… ist die Idee einer gemeinsamen Armee für Europa schon alt. 1952 kam sie erstmalig in Form der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf. Sie sollte eine einzige Armee für Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien und die Niederlande schaffen. Im französischen Parlament bekam die EVG allerdings 1954 keine Mehrheit. Konrad Adenauer sprach von einem „schwarzen Tag für Europa“ und der „bittersten Enttäuschung“ seiner gesamten Regierungszeit.
… hatte die junge BRD an dem Projekt. Deutschland war die treibende Kraft gewesen, weil damit die Wiederbewaffnung als auch das Ende des Besatzungsstatuts einhergegangen wären.
… war die Idee in den folgenden Jahrzehnten. 1991 wollte Helmut Kohl eine länderübergreifende Armee. 1996 forderte der französische Premier Alain Juppé sie. 1998 plädierte Tony Blair für eine gemeinsame Militärstruktur der EU. 2005 warb auch Wolfgang Schäuble dafür.
… gibt es bereits durch die von der EU geschaffene Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) in Form von multinationalen Korps, die in 15 Missionen in zwölf Länder Europas und Afrikas geschickt werden. Die EU-Soldaten beobachten, überwachen, bilden aus und verteidigen sich in Afghanistan, Bosnien und Herzegowina, im Kongo, in Georgien, im Irak, in Moldau, im Niger, in Palästina, in Somalia und im Südsudan.
…stehen diese mulitnationalen Korps allerdings. So gibt es das Deutsch-Niederländische Korps in Münster, das in diesem Jahr die Führung in der Testphase der sogenannten Speerspitze übernimmt, jener sehr schnellen Eingreiftruppe, die der Nato-Gipfel in Wales im vergangenen September beschlossen hat. Es gibt das Multinationale Korps Nordost in Stettin, in dem Polen, Deutsche und Dänen zusammenarbeiten. Es übernimmt eine immer größere Rolle beim Schutz der sich von Russland bedroht fühlenden baltischen Staaten. Und schließlich wollen die Bundeswehr und Polens Armee schon bald jeweils ein Bataillon den Streitkräften des anderen Landes unterstellen.
… ist die 1989 gegründete Deutsch-Französische Brigade, die allerdings von Beginn an das Problem einer engen militärischen Verzahnung deutlich machte: Die Franzosen wollten die Brigade gern in Kampfeinsätze schicken, die Deutschen hielten davon nicht viel.
… sind aber jetzt schon kaum mehr möglich. Zu eng sind die Armeen bereits miteinander verflochten. Beispiel Libyen 2011: Die Bundesregierung war gegen eine Teilnahme an der Libyen-Mission und legte damit die Aufklärung durch Awacs-Flugzeuge der Nato über dem Mittelmeer fast lahm. Sicherheitsexperten sprechen von „multilateralen militärischen Verbundfähigkeiten“: Kein Land kann sich aus den integrierten Verbänden zurückziehen, ohne damit die Verbündeten handlungsunfähig zu machen.
… hat es über das militärische Vorgehen Unstimmigkeiten zwischen den EU-Staaten gegeben Während etwa die baltischen Staaten und Polen der Ukraine im Kampf gegen die von Russland unterstützten Separatisten mit Waffenlieferungen helfen wollen und wollten, zeigen sich EU-Länder wie Italien, Ungarn und Österreich in diesem Punkt restriktiv.
… der militärischen Verzahnung einerseits und der unterschiedlichen Rechtslagen andererseits beschäftigt sich in Deutschland eine Kommission unter Leitung des früheren Verteidigungsministers Volker Rühe. Sie hat die Aufgabe, zu überprüfen, wie der Parlamentsvorbehalt, der in der Bundesrepublik für jeden Einsatz der Bundeswehr gilt, unter den neuen Verhältnissen gesichert werden kann. „Wir haben heute schon keine rein nationalen Armeen mehr“, sagt Rühe.
Warum werben dann jetzt so viele Entscheider wie die Minister Frank-Walter Steinmeier bis Ursula von der Leyen für die länderübergreifende Armee?
Wenn Politiker das tun, hat das immer etwas mit Geld zu tun. Wer allerdings glaubt, mit einer europäischen Armee durch Rüstungsschwerpunkte Geld zu sparen, irrt. Denn Kommandostrukturen aufzubauen und die notwendigen militärischen Fähigkeiten bereitzustellen, kostet. Und zwar nicht weniger als jetzt.
Es gibt ja schon einige enge länderübergreifende militärische Kooperationen, zum Beispiel die Deutsch-Französische Brigade. Die könnte man ausbauen.
Ja, aber die ist weniger ambitioniert, aber es ist schon viel erreicht worden. Aber auf dieser Ebene offenbaren sich bereits Probleme, die eine europäische Armee in viel stärkerem Maße hätte. Es gibt enorme politische Hindernisse für den Aufbau einer europäischen Armee.
Wir brauchen also erst einen europäischen Außen- und Verteidigungsminister, bevor es eine europäische Armee geben kann?
Wie sollte sonst der Primat der Politik funktionieren und die Kommandostruktur bei einer europäischen Armee aussehen? In Frankreich entscheidet zuerst einmal der Präsident über militärische Einsätze, in Deutschland etwa ist es der Bundestag. Soll künftig ein europäischer Verteidigungsminister entscheiden, wann die deutsche Luftwaffe Einsätze fliegt? Entscheidet das EU-Parlament über militärische Einsätze? Entscheidet ein europäischer Präsident? Oder weiter die Nationalparlamente?
In den ersten beiden Fällen müssten die Nationalstaaten massiv an Souveränität abtreten, im letzteren würde sich an den langwierigen Prozessen, wie wir sie jetzt schon kennen, nichts ändern. Wie entkommt man diesem Dilemma?
Die Politik muss vorangehen. Wir brauchen mehr europäische Integration, etwa bei den Rechtssystemen. Wir brauchen gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Grundlagendokumente, auch zu den möglichen politischen Entscheidungsprozessen. Ich bin daher dafür, zunächst die Interoperabilität auszubauen, mehr multinationale Verbände zu schaffen und Ausbildung und Ausrüstung nach gemeinsamen Standards zu verbessern.





Als Abkehr von den von ihren Vorgängern angestoßenen Bundeswehrreformen ist Verteidigungsministerin Ursula von der Leyens Prämisse „Tiefe vor Breite“ zu verstehen. Wenn nicht mehr jede Nation jede militärische Spezialisierung aufweist, welche Aufgaben könnten dann der Bundeswehr zufallen? Oder anders: Was kann unsere Armee gut und was nicht?
Die Diskussion über „Tiefe vor Breite“ und umgekehrt geht am eigentlichen Problem vorbei. Es geht darum, dass die Streitkräfte die Aufgaben erfüllen können, die ihnen von der Verfassung und von der Politik gestellt sind. Es geht also um die Harmonisierung von Aufgaben, Fähigkeiten und erforderliche finanzielle Mittel. Die Politik sollte aufhören, immer nur nach Ausflüchten zu suchen, wie man der Bundeswehr das vorenthalten kann, was sie für ihren grundgesetzlichen Auftrag braucht.
Aber das ist ja eher wieder das bereits angesprochene Problem des fehlenden politischen Überbaus als der Idee „Tiefe vor Breite“.
Ja, es läuft immer wieder auf die Politik hinaus, die erst die Bedingungen schaffen muss für eine europäische Armee.
Gibt es denn etwas, das die Bundeswehr derzeit nicht leisten kann?
Sie ist tatsächlich derzeit nicht in der Lage, alle ihr gestellten Aufgaben wahrzunehmen. Auch nicht im Hinblick auf ihre Nato-Verpflichtungen.
… Sie meinen den Fall, der im Februar unter dem Stichwort Besenstiel bekannt wurde: Bundeswehr-Soldaten hatten bei einem Nato-Manöver schwarz angestrichene Besenstiele statt Waffenrohre an ihre gepanzerten Fahrzeuge montiert.
Genau. Es fehlt an Geld.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat gerade Details für eine superschnelle Eingreiftruppe als „Speerspitze“ vorgestellt, die sich aus der von Ihnen gegründeten Nato Response Force (NRF) speisen soll. Sind sie als Vater der NRF damit zufrieden?
Die NRF ist praktisch der Prototyp einer Zukunftsarmee, erstmalig mit gemeinsamen Standards. Ich hoffe, dass die Nato Response Force, aus der die sehr schnelle Eingreiftruppe ihre 5000 Mann generieren soll, wirklich von 13.000 auf 30.000 aufgestockt und die strategische Verlegezeit deutlich verkürzt wird. Außerdem sollte sie direkt der Nato unterstellt werden, um den Entscheidungs- und Unterstellungsprozess zu verkürzen.
Harald Kujat ist Gründer der Nato Response Force (NRF), Nato-General a. D. und Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr.