Die Bankenkrise in Italien, das Anleihekaufprogramm der EZB, die umstrittene Niedrigzinspolitik Mario Draghis – das sind die drei großen Themen, zu denen der EZB-Chef am Mittwoch im Bundestag Rede und Antwort stehen muss. Nach einem Gespräch mit den Mitgliedern des Europa-, des Haushalts- und des Wirtschaftsausschusses trifft Draghi am Nachmittag Bundestagspräsident Norbert Lammert. Sie alle werden ihn kaum verschonen. Vor allem die Unions-Abgeordneten kritisieren sein Handeln, machen ihn verantwortlich für eine Enteignung der Sparer und eine Verschärfung der Bankenkrise.
"Draghi setzt mit seiner Politik ein fatales Signal für eine stabilitätsorientierte Fiskalpolitik", sagte etwa der Obmann der Unionsfraktion im Finanzausschuss, Hans Michelbach (CSU). Auch seine CDU-Kollegin Antje Tillmann, finanzpolitische Sprecherin der Fraktion sagte: „Ich erwarte, dass Draghi am konkreten Beispiel erklärt, wo seine Niedrigzinspolitik erfolgreich wirkt. Und ich erwarte auch, dass er uns ein realistisches Szenario präsentiert, wie man wieder zu einer Normalzinsphase kommen kann." So berichtete es die "Rheinische Post".
Die SPD hingegen stellt sich vor dem wichtigen Termin hinter Draghi. "Die EZB hat sich in der Krise als einzige durchgängig handlungsfähige Institution erwiesen", so Carsten Schneider, Fraktions-Vize der Partei. "Die Unabhängigkeit der Notenbanken ist ein hohes Gut und sollte, gerade von führenden Politikern, nicht in Frage gestellt werden."
Tatsächlich hat sich Draghi vorgenommen, seiner Linie treu zu bleiben. Der EZB-Präsident, so ist aus seinem Umfeld zu hören, will am Mittwoch keine Kurskorrektur bekannt geben. Vielmehr gedenkt er, seine bisherige Politik – vor allem das fortgesetzte Kaufprogramm für Staatsanleihen und Unternehmensschuldscheine – zu verteidigen, auf notwendige Strukturreformen in Europa hinzuweisen und die Wirksamkeit seiner Politik in Südeuropa herauszuarbeiten.
Es sind vor allem fünf Gründe, die ihn in dieser Haltung bestärken:
Titel-Talk: Mario Draghi - Nahaufnahme eines Überzeugungstäters
1) Draghi macht seine Geldpolitik nicht nur für ein Land – sondern für 19
Eine einheitliche Geldpolitik für die gesamte Eurozone zu finden, war für die Währungsunion von Beginn an die größte Herausforderung. Mario Draghis Generaldirektion Kommunikation ist jeden Tag in Kontakt mit den 19 Euro-Mitgliedsländern, übersetzt die Weisungen des Chefs in 15 Sprachen, beschäftigt über 200 Mitarbeiter, die die Entscheidungen der EZB in Berlin genauso verkaufen müssen wie in Athen. Schon Draghis Amtsvorgänger Jean-Claude Trichet wusste um diese Schwierigkeit: „Wenn ich in Paris spazieren gehe, fragen mich die Leute: wann erhöhst Du endlich die Zinsen. Wenn ich in Frankfurt spazieren gehe, fragen sie mich: wann senkst Du sie endlich?“, ist sein bekanntes Bonmot aus dieser Zeit. Draghi formuliert es etwas eleganter: „Wenn unsere Politik nur für ein Land die richtige wäre und für den gesamten Währungsraum die falsche, dann wäre Instabilität das Ergebnis, und am Ende würden alle Länder leiden. Deshalb müssen wir uns auf den gesamten Euroraum konzentrieren und nicht auf einzelne Länder.“
2) Draghi flutet die Märkte mit Geld - aus Überzeugung
Eine der ersten Amtshandlungen Draghis war es im Herbst 2011, die Leitzinsen zu senken, obwohl damals die Inflation längst nicht so niedrig war wie heute. Kurz danach folgte mit seiner Londoner „whatever it takes“-Rede der Start seiner milliardenschweren Gelddruckpolitik. Der EZB-Chef glaubt fest daran, dass Zentralbanken und Politik die Wirtschaft und die Märkte steuern können – und dies auch tun sollten. Diese moderne Auffassung des Keynesianismus vertritt Draghi, seitdem er Mitte der Siebzigerjahre am weltberühmten Massachusetts Institute of Technology studierte – wie so viele seiner berühmten Weggefährten.
Geldpolitik der EZB: Belastungen durch Niedrigzinsen
In Deutschland beliebte Sparformen wie Tages- und Festgeld werfen kaum noch etwas ab. Die niedrige Inflation gleiche die negativen Effekte der niedrigen Zinsen allerdings aus, betont EZB-Präsident Mario Draghi. Derzeit liege die Verzinsung minus Inflation höher als im Durchschnitt der 1990er Jahre. „Zu der Zeit hatten Sie höhere Zinsen auf dem Sparbuch, aber zugleich meist Inflation, die weit darüber lag und alles auffraß“, sagte Draghi jüngst in einem Interview. Im Mai lagen die Verbraucherpreise in Deutschland nach vorläufigen Berechnungen gerade einmal um 0,1 Prozent über dem Vorjahresniveau.
Stand: 07.06.2016
Finanzinstitute müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Für den durchschnittlichen Privatkunden sind Strafzinsen bislang kein Thema. Man werde „alles tun, um die privaten Sparer vor Negativzinsen zu schützen - in Teilen auch zu Lasten der eigenen Ertragslage“, sagte jüngst der Chef des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Georg Fahrenschon. Wenn die aktuelle Niedrigzinsphase aber lange andauere, würden die Sparkassen die Kunden letztlich nicht davor bewahren können. Zudem könnten Geldhäuser nach Angaben des Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Uwe Fröhlich, gezwungen sein, an der Gebührenschraube zu drehen: „Jeder muss in seiner Bank überlegen, wie er über Konditionen-Gestaltung gegen die Ertragsverluste anarbeitet, die ohne Zweifel da sind.“
Lebensversicherern fällt es immer schwerer, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften. Die Folge: Die Verzinsung des Altersvorsorge-Klassikers sinkt seit geraumer Zeit. Auch Betriebsrenten leiden, Firmen müssen wegen der Zinsschmelze immer mehr Geld für die Pensionsverbindlichkeiten zurücklegen. Viele Unternehmen versprechen bei Neueinstellungen daher keine konkreten Leistungen mehr, sondern sagen lediglich zu, einen bestimmten Betrag pro Monat in Vorsorgekassen einzuzahlen. Das Zinsrisiko tragen die künftigen Pensionäre.
Die Eliteuni hat ja nicht nur ihn geprägt, sondern eine ganze Kaste von Notenbankern und einflussreichen Finanzgrößen: der ehemalige Fed-Chef Ben Bernanke gehört ebenso dazu wie Stanley Fisher, der vormalige Chef der israelischen Zentralbank. Ex-US-Finanzminister Larry Summers und der frühere IWF-Chefökonom Kenneth Rogoff sowie seine dortigen Nachfolger Olivier Blanchard und Maurice Obstfeld. Wohl noch nie hat eine ökonomische Schule in der Wirtschaftspolitik weltweit solchen Einfluss ausgeübt. Es ist die ultimative Legitimation für Draghis Handeln.
3) Die EZB ist zwar Hüterin des Euro – aber nicht Garant für Einnahmen der Banken
Einige der schärfsten Draghi-Kritiker kommen dieser Tage aus dem Lager der Banken und Pensionskassen. Deutsche-Bank-Chef John Cryan schimpfte jüngst: „Inzwischen wirkt die Geldpolitik den Zielen entgegen, die Wirtschaft zu stärken und das europäische Bankensystem sicherer zu machen.“ Der Bonner Ökonom Martin Hellwig hält Draghis Politik schlicht für „gefährlich“ und kaum kontrollierbar. Seine Kollegin, die Schweizer UBS-Bankerin Beatrice Weder di Mauro sagt, Draghis Medizin „wirkt nicht. Aber die Nebenwirkungen sind hoch“. Carlo Messina, Chef der zweitgrößten italienischen Bank Intesa Sanpaolo, meint nur: "Ein Nullzinsumfeld ist keine Dauerlösung, die Strategie ist nicht nachhaltig."
Tatsächlich zerstört Draghis zinslose Welt ihr Geschäftsmodell, weil die Banken mit dem Geldverleih kaum noch Gewinne einfahren und für ihre eigenen Geldanlagen bei der EZB Strafzinsen zahlen müssen. Der EZB-Präsident ficht das kaum an – und fühlt sich dennoch nicht zuständig. Draghi kümmert sich um die Inflation, nicht um den Gewinn der Geldinstitute. Sein erklärtes Ziel ist es, den Euro als Ganzes zu retten. Dem ordnet er alles unter.
Die EZB kann den Euro nicht allein stabilisieren
4) Aus Sicht der Zentralbank geht es deutschen Sparern gar nicht schlecht
Natürlich weiß man auch am Frankfurter Osthafen, wo die EZB ihren neuen Sitz hat, dass durch die niedrigen Zinsen viele Sparguthaben kaum noch Rendite abwerfen. Zudem belasten die Null- und Negativzinsen die Bilanzen der Unternehmen. Um die Pensionszusagen für ihre Mitarbeiter zu erfüllen, müssen viele Firmen angesichts der fehlenden Zinseszins-Effekte mehr Geld in die Rücklagen stecken. Anleger schließlich werden auf der Suche nach Rendite in immer risikoreichere Investments gedrängt. Die Folgen sind Preisblasen.
Doch Draghis Daten zeigen ihm auch: die Sparfreude der Deutschen leidet darunter kaum. Im Gegenteil: die Sparquote hierzulande steigt seit Jahren kontinuierlich an. Außerdem, meint der EZB-Chef, komme es ja auf den Realzins an. Wenn es keine Inflation, also keine Geldentwertung, gebe, seien auch 0,5 Prozent Zinsen ein realer Gewinn. Und die implodierenden Geschäftsmodelle der Pensionskassen? In den USA habe es auch schon mal acht Jahre mit Nullzins gegeben. Außerdem: Nicht die Geldpolitik muss sich an die Geschäftsmodelle der Pensionskassen anpassen, sondern umgekehrt. „Den Mindestlohn halten die Deutschen für Teufelszeug. Aber einen Mindestzins soll es bitteschön geben“, ist einer der Witze, die man sich darüber in EZB-Kreisen gerne erzählt.
Geldpolitik der EZB: Entlastungen durch Niedrigzinsen
Verbraucher sparen bei Darlehen, ob für den neuen Fernseher oder für die eigenen vier Wände. Hausbauer können sich zu historisch günstigen Konditionen Geld leihen. Nach Angaben des Bankenverbandes BdB sind Hypothekendarlehen mit zehn Jahren Zinsbindung derzeit zu Effektivzinsen von durchschnittlich etwa 1,4 Prozent zu haben. 2007 lagen sie noch bei mehr als fünf Prozent.
Billiger ist es auch geworden, das eigene Konto zu überziehen. Vor fünf Jahren lagen die Dispozinsen nach Angaben der Finanzberatung FMH im Schnitt noch bei 11,26 Prozent. Mittlerweile sind es demnach durchschnittlich 9,51 Prozent.
Seit Jahren ist günstiges Notenbankgeld der zentrale Treibstoff für die Börsen. Aktionäre können von steigenden Kursen profitieren. Zuletzt wagten sich die eher börsenscheuen Deutschen wieder stärker an den Aktienmarkt. Knapp 9,01 Millionen Menschen besaßen nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts im vergangenen Jahr Aktien und/oder Anteile an Aktienfonds - das ist der höchste Stand seit 2012.
Mit der Ausgabe von Anleihen finanziert die öffentliche Hand - neben Steuereinkünften - einen Großteil ihrer Ausgaben. Am Montag fiel die sogenannte Umlaufrendite, die ein durchschnittliches Maß für die „Verzinsung“ von Staatspapieren mit einer Laufzeit von drei bis 30 Jahren ist, in Deutschland erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik in den negativen Bereich. Der Bund „verdient“ in einer solchen Situation somit an seiner eigenen Schuldenaufnahme, anstatt den Gläubigern - den Käufern der Anleihen - einen Zins zu zahlen.
Stand: 7. Juni 2016
5) Es gibt kaum jemanden, der einen besseren Weg wüsste
Draghis Politik in Zahlen: Länder wie Frankreich oder Italien zahlen für ihre Staatsanleihen derzeit weniger als ein Prozent Zinsen. Seit März 2015 hat die EZB 1000 Milliarden Euro in die Welt gesetzt. Auf den Bankkonten der Zentralbank aber lagern 1022 Milliarden. Offenbar haben die Unternehmen also andere Probleme als frisches Kapital. Mehr als 700 Mal haben Zentralbanken weltweit seit 2008 die Zinsen gesenkt. Draghi belässt die Leitzinsen dennoch bei Null, kauft weiter Staatsanleihen und Unternehmensschuldscheine für 80 Milliarden Euro. Jeden Monat. Das soll noch bis zum Frühjahr 2017 so bleiben – vermutlich darüber hinaus. Immer mehr Beobachter fragen sich: Gibt es je einen Ausweg?
Jedenfalls keinen, den der EZB-Präsident für gangbar hält. Und da ist er sich ausnahmsweise mit vielen Experten einig. Die Zinsen nun zu erhöhen und den Patienten Eurozone quasi auf kalten Entzug vom billigen Geld zu setzen, hätte unabsehbare Folgen – vor allem für die südeuropäischen Länder, deren Banken noch immer marode und deren Märkte in Unordnung sind. Es ist ein Dilemma: mit Draghis Politik des lockeren Geldes würden Strukturreformen in den Mitgliedsstaaten verhindert, der Steuerungsmechanismus von Zinsen sei außer Kraft, sagt etwa der Ex-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD). „Gleichzeitig hätte es gravierende Folgen für viele Länder, wenn er seine Politik ändern würde.“
Nicht nur Steinbrück, auch Draghi, glaubt, dass die EZB alleine es nicht mehr schaffen kann, die Wirtschaft anzukurbeln und den Euro zu stabilisieren. Aus seiner Sicht muss aus der Währungsunion eine echte Fiskalunion werden, mit gemeinsamer Wirtschaftsregierung, womöglich gemeinsamen Steuern und Abgaben. Dafür aber müssen sich die Länder der Eurozone zunächst einander angleichen – und das sei eben nur mit Strukturreformen, riesigen staatlichen Investitionsprogrammen und strengen Regeln zu machen.
Unterstützung für diesen Kurs fand Draghi neulich bei den Chefs der 20 größten Industrie- und Schwellenländer. Anfang September stellten sie auf ihrem Treffen in China fest: Die Geldpolitik könne es nicht alleine richten. Vielmehr müssten die Länder nun strukturelle Reformen umsetzen und auf die Finanzpolitik setzen, um das weltweite Wachstum wieder zu beleben. Sollten sie ernst machen mit ihrer Ankündigung, wäre das vielleicht wirklich ein Weg, die ultralockere Geldpolitik in einigen Jahren wieder zu beenden: „Der Euroraum muss sich zunächst erholen. Deutschland würde stark davon profitieren“, sagt Draghi. „Damit wir in der Zukunft höhere Zinsen haben, müssen sie jetzt niedrig sein.“