Erdrutschsieg in Großbritannien Der inhaltsleere Höhenflug der Brexit Party

Im vergangenen Dezember gab Farage seinen Austritt aus der Ukip-Partei bekannt und trat im Anschluss in die Brexit Party ein. Quelle: imago images

Die neue Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage hat bei den Europawahlen in Großbritannien klar gewonnen. Der Schlüssel zum Erfolg: Sie hat so gut wie keine Inhalte.

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In Großbritannien gibt es bei den Europawahlen einen eindeutigen Gewinner: Nigel Farage. Der Chef der nur wenige Wochen alten Brexit Party hat nach Hochrechnungen vom Montagmorgen aus dem Stand 33,3 Prozent der Stimmen geholt - und damit mehr als die konservative Partei von Premierministerin Theresa May und Labour zusammen. Labour lag mit 14,6 Prozent der Stimmen weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Den zweiten Platz belegte, überraschend deutlich, die Liberaldemokratische Partei mit 20,9 Prozent. Auch die Grünen haben stark zugelegt und kamen den Hochrechnungen zufolge auf 12,5 Prozent. Die Tories erhielten gerade einmal 8,8 Prozent der Stimmen - ein katastrophales Ergebnis. Die Wahlbeteiligung war mit knapp unter 37 Prozent vergleichsweise gering.

Das ist die Gegenreaktion auf den verpatzten Brexit-Prozess, vor der viele Beobachter gewarnt haben.

Der Vorkämpfer und das öffentliche Gesicht der Brexit Party ist dabei kein Unbekannter: Nigel Farage hat über viele Jahre die United Kingdom Independence Party (Ukip) angeführt. Er hat in dieser Zeit die Forderung, dass Großbritannien die EU verlassen soll, salonfähig gemacht. Sieben Mal ist er mit dem Versuch gescheitert, sich als Abgeordneter ins britische Parlament wählen zu lassen. Seit 1999 sitzt er als Abgeordneter im Europaparlament.

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Im vergangenen Dezember gab Farage seinen Austritt aus der Ukip-Partei bekannt, nachdem die Partei unter ihrem neuen Chef Gerard Batten vollends ins rechtsextreme Lager abgerutscht ist. Anfang des Jahres stellte sich Farage hinter die Brexit Party, die von seiner früheren Ukip-Parteikollegin Catherine Blaiklock gegründet wurde. Doch auch die Brexit Party hatte schnell ihr erstes Rassismus-Problem: Es wurde bekannt, dass Blaiklock seit 2017 auf Twitter mehrere Islam-feindliche Nachrichten veröffentlicht und Tweets von Rechtsextremen weitergeleitet hat. Als der Guardian sie damit konfrontierte, trat Blaiklock unvermittelt zurück. Farage wurde zum Chef der Brexit Party, Blaiklock tauchte schnell in den Hintergrund ab.

Nigel Farage ist so etwas wie der Prototyp eines Rechtspopulisten: Er ist selbstverliebt und pompös, pflegt häufiger einen eher lässigen Bezug zur Wahrheit und hatte in der Vergangenheit keine erkennbaren Bedenken, fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren, wenn er sich daraus einen Vorteil versprach. Mit seinen früheren Aussagen konfrontiert werden möchte er jedoch nicht.

Der BBC-Journalist Andrew Marr legte Farage kürzlich während eines Interviews eine Reihe von Äußerungen vor, die dieser in der Vergangenheit gemacht hat: Marr wollte wissen, ob Farage Russlands Präsidenten Wladimir Putin noch immer bewundere, ob er die Sorge vor dem Klimawandel weiter für „die dümmste Sache in der Geschichte der Menschheit“ halte, ob er noch immer das Waffenrecht lockern wolle, ob er sich noch immer „unwohl“ fühle, wenn er im Zug Menschen fremde Sprachen sprechen höre und ob er noch immer glaube, dass man HIV-Infizierten die Einreise nach Großbritannien verweigern sollte. „Das ist absolut lächerlich“, polterte ein sichtlich aufgebrachter Farage. „Noch nie“ habe er „ein lächerlicheres Interview gesehen“, sagte er dann. Er wolle darüber sprechen, was „in diesem Land los ist“, doch die BBC verschließe „die Augen vor den Tatsachen.“ Farage schüttelte empört den Kopf und schnaubte vor Wut.

Bei seinen Wahlkampfauftritten hat sich Farage dafür ausgesprochen, dass Großbritannien die EU ohne ein Abkommen verlassen und mit dem Bündnis fortan nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO Handel treiben sollte. Details dazu, wie das konkret funktionieren soll, bleibt er jedoch schuldig. Auch auf der Webseite der Partei suchte man nach weiteren Inhalten vergeblich. In einem Video sprechen Farage und weitere Parteivertreter darüber, dass die Menschen „betrogen“ worden seien. Sie erklären, dass sie „an die Demokratie“ glaubten. „Großbritannien braucht die Brexit Party und die Brexit Party braucht Dich“, sagt Farage am Ende des weitgehend inhaltsleeren Clips.

Farage selbst hat in den vergangenen Wochen mehrfach erklärt, dass seine Partei erst nach den Europawahlen ihre weiteren politischen Ziele bekanntgeben werde. Diese Taktik scheint aufgegangen zu sein. Die Brexit Party wurde damit zu einer Projektionsfläche für alle Wählerinnen und Wähler, die über den verpatzten Brexit-Prozess verärgert sind, die aber an konkreten politischen Vorstellungen von Farage und Co. Anstoß nehmen könnten.

Ähnlich haushoch abräumen würde die Brexit Party bei Wahlen zum britischen Parlament allerdings mit ziemlicher Sicherheit nicht. Da würde sie aufgrund des Mehrheitswahlrechts mit ihrem derzeitigen Stimmenanteil in den verschiedenen Wahlkreisen im Moment auf geschätzt etwa 50 Sitze kommen. Auch das gute Abschneiden von Ukip bei den vorigen Europawahlen 2014 (als Ukip mit 26,6 Prozent der Stimmen bei einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung knapp stärkste Partei wurde) hat sich anschließend nicht in Wahlerfolge bei Abstimmungen zum Unterhaus übersetzt.

Wählerbefragungen deuten darauf hin, dass die Brexit Party praktisch die gesamte frühere Ukip-Wählerschaft absorbiert hat - was zu erwarten war. Aber auch viele Tory-Wählerinnen und -Wähler, die über den Stand der Dinge in Sachen Brexit verärgert sind, scheinen zur Brexit Party abgewandert zu sein. Selbst Labour scheint Wähler an die Brexit Party verloren zu haben, allerdings in einem weitaus geringerem Maße als die Tories. Vor allem in den Großstädten haben viele Labour-Unterstützer diesmal offenbar für die Liberaldemokraten und die Grünen gestimmt. Beide Parteien haben sich im Vorfeld der Wahlen klar gegen den Brexit positioniert und jetzt für ihre Verhältnisse sehr gute Ergebnisse eingefahren. Viele Labour-Wähler und ein großer Teil der überwältigend EU-freundlichen Basis sind unglücklich darüber, dass sich ihre Partei zum Brexit bis heute nur unklar positioniert hat. Sie missbilligen es auch, dass Labour-Chef Jeremy Corbyn offenbar weiter einen Brexit anstrebt, wenn auch einen weniger harten als ihn sich die Tories wünschen.

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Rechnet man die Stimmenanteile von Grünen und Liberaldemokraten zusammen, dann liegen sie gemäß der Hochrechnung beinahe gleichauf mit der Brexit Party. Das Ergebnis der Europawahl zeigt somit ein weiteres Mal, wie gespalten die britische Gesellschaft noch immer ist.

Der immense Zulauf, den die Brexit Party in den vergangenen Wochen erlebt hat, hat den Druck auf Premierministerin Theresa May zuletzt so sehr erhöht, dass sie am Freitag ihren baldigen Rücktritt angekündigt hat - einen Tag, nachdem die Briten ihre Stimmen für das Europaparlament abgegeben haben. Wäre May früher zurückgetreten und das Nachfolgeprozedere schon in vollem Gange, hätten die Tories vermutlich weniger miserabel abgeschnitten. Der Erfolg der Brexit Party dürften den Druck auf Theresa Mays Nachfolger erhöhen, in Sachen Brexit einen harten Kurs einzuschlagen. Der derzeitige Favorit und frühere Außenminister, Boris Johnson, hat bereits erklärt, dass er das Land am 31. Oktober, dem aktuellen Brexit-Termin, aus der EU führen werde - und das mit oder ohne Abkommen.

Nigel Farage war nach der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse erwartungsgemäß in sehr guter Stimmung. „Noch nie wurde in der britischen Politik eine politische Partei erst vor sechs Wochen gegründet und bei landesweiten Wahlen am besten abgeschnitten“, erklärte Farage. „Es gibt eine große, massive Botschaft hier. Labour und die konservative Partei könnten nach dem heutigen Abend eine große Lektion lernen, aber ich glaube nicht, dass sie das werden.“ Farage hat erst kürzlich wissen lassen, wie er sich die Zeit nach der Europawahl vorstellt, falls seine Partei gewinnen sollte: „Wenn wir signifikante Unterstützung erhalten und gewinnen, werden wir demokratisch legitimiert sein, um mitreden zu können, wie wir von hier aus vorgehen“, sagte er auf einer Pressekonferenz.

Anders gesagt: Nigel Farage möchte einen Platz am Brexit-Verhandlungstisch.

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