Nikos Dimou im Interview Vom Unglück ein Grieche zu sein

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Griechen haben nie kritisch zu denken gelernt

Warum beschweren sich die Bürger nicht, wenn sie so schlecht behandelt werden?

Die Leute haben weder zu Hause noch in der Schule kritisch zu denken gelernt. Griechenland ist das einzige Land des Westens, in dem Darwins Theorie nicht gelehrt wird. Weil die orthodoxe Kirche es verhindert.

Warum gibt es in Griechenland eigentlich keine Zivilgesellschaft?

Im Westen hat es drei, vier Jahrhunderte gedauert, bis eine Zivilgesellschaft entstand. Hier wird sie auch Fuß fassen. Wir hatten lange Zeit keine bürgerliche Klasse. Bis Ende des 19. Jahrhunderts befand sich Griechenland in einem feudalen Zustand. Einigen wenigen gehörten Landgüter, die Städte waren unterentwickelt. Als ich geboren wurde, hatte Athen 400 000 Einwohner. Jetzt sind es vier Millionen. Wenn über drei Millionen zuziehen, kann man die nicht so schnell bilden. Das braucht Zeit.

Was ist Ihre Prognose für die griechische Gesellschaft?

Ich bin optimistisch, dass wir eines Tages eine westlich-rationale Gesellschaft werden. Die andere Möglichkeit ist, dass wir wie der Iran ein Gottesstaat werden. Die Kirche mischt sich ja heute schon in alles ein. Unsere Verfassung fängt mit einem Bezug auf die Dreifaltigkeit an, nicht mit der Macht, die vom Volk ausgeht.

Was sagen Ihre Landsleute eigentlich zu Ihrer kritischen Sicht der Dinge?

Manchmal sagen mir Leute privat, dass sie mit mir übereinstimmen. Oft höre ich auch neidvolle Bemerkungen: dass ich mir meine Meinungen leisten könne, weil ich aus meiner Zeit in der Werbung Geld beiseite gelegt habe. Dabei habe ich in der Krise viel Geld verloren und muss weiter arbeiten. Aber mit meinen Ansichten bin ich sicherlich in der Minderheit in diesem Land. Ich bin ein schwarzes Schaf.

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