Nikos Dimou im Interview Vom Unglück ein Grieche zu sein

Seit dem 18. Jahrhundert wollen die Deutschen und Europäer in den Griechen etwas sehen, was sie nicht sind: Der Schriftsteller Nikos Dimou über die Idealisierung des antiken Griechenland, das Feindbild Deutschland und das Fehlen der politischen Mitte.

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Nikos Dimou Quelle: Laif

Herr Dimou, Sie sagen, Griechenland sei kein modernes, westliches Land. War es der große Fehler Europas, dass es lange Zeit genau das angenommen hat?

Nikos Dimou: Im Westen gab es diese feste Vorstellung, dass wir Griechen viel europäischer seien als etwa die Bulgaren und Serben, die auf dem Balkan oder im vorderen Orient verortet wurden. Unsere Vergangenheit hat uns zu einem besonderen Status verholfen. Ein Grieche würde heute noch sagen: Wir haben Europa erfunden. Der Name stammt schließlich aus dem Griechischen.

Nun ist der Westen aber gerade dabei, sein Bild zu korrigieren...

…und merkt, dass wir seinem idealisierten Bild nicht entsprechen. Besonders ironisch finde ich übrigens, dass ausgerechnet die Deutschen im 18. Jahrhundert mit der Idealisierung der Griechen angefangen haben. Mit Johann Joachim Winckelmann. Anschließend haben sie die übrigen Europäer damit indoktriniert.

Wie meinen Sie das?

Die Bayern haben mit König Otto, dem ersten griechischen König aus dem Hause Wittelsbach, versucht, unser Land zu reformieren. Sie wollten aus uns vollkommene Europäer machen, und zugleich wollten sie, dass wir unseren antiken Vorfahren ebenbürtig sind. Dass wir ebenso klug, schöpferisch und poetisch sind. Das hat uns geschadet. Man kann nicht einfache balkanische Bauern, und das waren damals die meisten Griechen, in solche Geschöpfe verwandeln. Griechenland hat keine Renaissance erlebt, keine Reformation, keine Aufklärung. All diese Momente, die die europäische Identität bestimmt haben, sind an uns vorbeigegangen. Um aus uns eine westliche Nation zu machen, musste im 19. Jahrhundert alles importiert werden.

Zur Person

Alles?

Es fing mit den Gesetzen an, die aus Deutschland importiert wurden. Das erste griechische Gesetzbuch war eine Übersetzung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Bayern wollten aus uns Deutsche machen (lacht). Auch die Institutionen wurden importiert. Das alles war fremd, es ist nicht von innen heraus gewachsen.

Welche Relevanz hat das für die heutige Situation?

Griechenland ist es nie gelungen, eine rationale, westliche Nation zu werden. Das ist auch ganz natürlich, weil niemand in 100 Jahren ein ganzes Jahrtausend Entwicklung nachholen kann. Aber mein Eindruck ist, dass die Krise uns hilft, uns besser zu organisieren.

Aber wieder kommt Druck von außen. Kann es zu einem Wandel kommen, wenn die Veränderungen als aufgezwungen empfunden werden?

Unsere Geschichte der Fremdbestimmung hat uns in der Tat geprägt. Im alten Athen gab es eine Quasidemokratie, in der Frauen, Fremden und Sklaven das Wahlrecht verwehrt blieb. Davon abgesehen, war die ganze Geschichte Griechenlands die eines Landes, das unter einer autoritären Herrschaft lebte. Byzanz war sehr autoritär, die Herrschaft der Türken ebenso. Weil wir immer autoritär regiert wurden, waren wir immer gegen Autorität. Die Griechen waren geborene Widerständler. Wir haben keine Kultur, uns selbst zu regieren. Diese Kultur bekommen wir jetzt durch die Krise.

Die Hälfte der Griechen sucht die Schuld an der Krise im Ausland

Gleichzeitig machen manche Griechen Mächte wie die Troika und Deutschland für den Zustand ihres Landes verantwortlich. Wie groß ist die Einsicht, dass es auch eine eigene Verantwortung gibt?

Die Hälfte der Griechen akzeptiert, dass wir an unserer Lage selbst schuld sind. Die andere Hälfte sucht die Verantwortung außerhalb Griechenlands. In ihrer mildesten Variante geht sie davon aus, dass die Fremden uns nicht verstehen und aus uns Protestanten machen wollen mit der dazugehörigen Arbeitsethik. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, zwei Namen, die man hier nicht gerne hört, wollen uns zu deutschen Robotern machen. Die härtere Variante, die Verschwörungstheorie, geht davon aus, dass der Norden den Süden in ein Reservoir billiger Arbeitskräfte verwandeln will. Eine andere Theorie besagt, dass Griechenland ein unglaublich reiches Land mit Unmengen an Erdgas und Öl sei, das die Fremden an sich reißen wollen.

Warum glauben gebildete Griechen ernsthaft an solche wilden Thesen?

Weil sich in diesem Land schon sehr lange eine Feindlichkeit und ein Misstrauen gegenüber dem Westen hält. Die Kirche und die Linke haben sie geschürt. Die orthodoxe Kirche bereits seit dem Jahr 1030, als sie sich von der römisch-katholischen Kirche abgespalten hat.

Das ist jetzt wirklich sehr lange her...

...aber seitdem hat die orthodoxe Kirche sehr konsequent die Ansicht vertreten, dass der Westen unser Feind ist. Zehn Jahre vor dem Aufstand gegen die Türkenherrschaft hat der Patriarch eine Art von Bulle herausgegeben, in der er nicht den türkischen Sultan, sondern die Menschen aus dem Westen zu Feinden erklärte, die mit Ideen von Demokratie, Gleichheit und Freiheit hantierten.

Und die Westfeindlichkeit der Linken?

Die Linke hat in Griechenland den Bürgerkrieg verloren, aber den Krieg der Ideen hat sie gewonnen. Die ganzen Klischees der kommunistischen Ideologie, etwa dass Reichtum eine Art Sünde sei, hat sich im öffentlichen Diskurs erhalten. Stellen Sie sich vor: Vor Weihnachten waren die Schulen in Nordgriechenland unbeheizt, weil die Regierung noch kein Geld für Brennstoff geschickt hatte. Die Soros Foundation wollte Heizöl spendieren, aber die Elternverbände haben das mit großem Trara ausgeschlagen, weil sie kein „schmutziges Öl“ wollten. Es ist ihnen lieber, dass ihre Kinder frieren. Das zeigt, dass die Westfeindlichkeit durch die Krise sogar noch viel schlimmer geworden ist.

Und die Deutschen sind besonders unbeliebt geworden...

...genau. Vor zehn Jahren waren sie das beliebteste Volk, nun sind sie das unbeliebteste und haben die Amerikaner abgelöst. Für die Linke sind die USA und Deutschland nur Symbole für Kapitalismus, Imperialismus und Ausbeutung.

Die politische Mitte schwindet

Wie ausgeprägt ist die Westfeindlichkeit in der politischen Klasse in Griechenland?

Die Leute, die mit den Geldgebern im Westen verhandeln, sind klug und gebildet genug, um zu wissen, dass all diese Ideen nicht zählen. Wenn sie aber gewählt werden wollen, dann müssen sie dem Volk sagen, dass sie dem Westen misstrauen.

Ist das ein Grund für die Erosion der politischen Mitte in Griechenland?

Wir sehen in der Tat ein verheerendes Verschwinden der politischen Mitte. Pasok, also die linke Mitte, war in den vergangenen 35 Jahren die dominierende Macht und ist jetzt gespalten in Hunderte von kleinen Gruppen. 2009 kam sie auf 44 Prozent der Stimmen. Bei der Europa- und Kommunalwahl im Mai kann sie froh sein, wenn sie noch 4,4 Prozent bekommt. Die Rechte ist ebenso gespalten. Und das Schlimmste ist, dass die Politik ein so schlechtes Image hat: Niemand will sich damit beschäftigen. Erfolgreiche Leute sagen: Um Gottes willen, was soll ich dort?

Es gibt doch Beispiele von Leuten, die in die Politik gewechselt sind, weil sie dem Elend nicht untätig zusehen wollen...

...und denen geht es, als wenn sie im New York der Zwanzigerjahre eine Anti-Mafia-Partei gründen wollten. Auf einmal rotten sich alle zusammen und stellen sich gegen die Neulinge. Die Erneuerung des griechischen politischen Korps bereitet mir großes Kopfzerbrechen. Ich sehe keine interessanten neuen Köpfe. Die Leute, die uns nun „retten“ wollen, sind diejenigen, die uns in die Krise gestoßen haben.

Inwieweit können die internationalen Geldgeber denn von außen helfen?

Bei manchen Themen gar nicht. Bei der Erneuerung der Politik zum Beispiel gäbe es nichts Schlimmeres, als wenn ein Kandidat in den Verdacht käme, von den Deutschen oder Franzosen unterstützt zu werden. Schauen Sie, das, was der Westen von uns will, ist unrealistisch: dass wir von heute auf morgen eine ganz andere Mentalität annehmen. Der Westen hat nicht kapiert, was für ein Land Griechenland ist, wie die Griechen denken und reagieren. Die Vorgaben des Westens waren sehr logisch – aber wir sind nicht logisch! Auch wenn die Logik von Aristoteles erfunden wurde.

Erklärt dies das schlechte Funktionieren des Staats?

Der Staat ist unser größtes Problem. Er ist zu groß, kostet sehr viel Geld und ist so schlecht organisiert, dass man ihn kaum reformieren kann. Übrigens hat das nicht mal die Diktatur geschafft. Die Obristen haben große Worte gemacht, was sie alles verändern wollten. Und am Schluss hat die Bürokratie die Diktatur bürokratisiert. Heute müssen Patienten im Krankenhaus zwei Stunden anstehen, ehe sie aufgenommen werden. Leute, die das erfinden, sind Sadisten. Aber Beamte sind glücklich, wenn sich nichts ändert.

Griechen haben nie kritisch zu denken gelernt

Warum beschweren sich die Bürger nicht, wenn sie so schlecht behandelt werden?

Die Leute haben weder zu Hause noch in der Schule kritisch zu denken gelernt. Griechenland ist das einzige Land des Westens, in dem Darwins Theorie nicht gelehrt wird. Weil die orthodoxe Kirche es verhindert.

Warum gibt es in Griechenland eigentlich keine Zivilgesellschaft?

Im Westen hat es drei, vier Jahrhunderte gedauert, bis eine Zivilgesellschaft entstand. Hier wird sie auch Fuß fassen. Wir hatten lange Zeit keine bürgerliche Klasse. Bis Ende des 19. Jahrhunderts befand sich Griechenland in einem feudalen Zustand. Einigen wenigen gehörten Landgüter, die Städte waren unterentwickelt. Als ich geboren wurde, hatte Athen 400 000 Einwohner. Jetzt sind es vier Millionen. Wenn über drei Millionen zuziehen, kann man die nicht so schnell bilden. Das braucht Zeit.

Was ist Ihre Prognose für die griechische Gesellschaft?

Ich bin optimistisch, dass wir eines Tages eine westlich-rationale Gesellschaft werden. Die andere Möglichkeit ist, dass wir wie der Iran ein Gottesstaat werden. Die Kirche mischt sich ja heute schon in alles ein. Unsere Verfassung fängt mit einem Bezug auf die Dreifaltigkeit an, nicht mit der Macht, die vom Volk ausgeht.

Was sagen Ihre Landsleute eigentlich zu Ihrer kritischen Sicht der Dinge?

Manchmal sagen mir Leute privat, dass sie mit mir übereinstimmen. Oft höre ich auch neidvolle Bemerkungen: dass ich mir meine Meinungen leisten könne, weil ich aus meiner Zeit in der Werbung Geld beiseite gelegt habe. Dabei habe ich in der Krise viel Geld verloren und muss weiter arbeiten. Aber mit meinen Ansichten bin ich sicherlich in der Minderheit in diesem Land. Ich bin ein schwarzes Schaf.

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