Norbert Blüm „Wenn Europa untergeht, geht unsere Kasse mit unter“

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Der Funke Hoffnung

Europa hat sich in seiner Geschichte mehr als einmal aus verzweifelten Lagen befreit. Auf den Dreißigjährigen Krieg folgte der Westfälische Friede und die Einsicht, dass die Konfessionen friedlich zusammen leben müssen. Unter großen Schmerzen und mit vielen Rückfällen haben wir Toleranz gelernt.

Der Dualismus zwischen Kaiser und Papst ist ein früher Vorreiter der demokratischen Machtverteilung.

Friedensstiftende Toleranz und freiheitssichernde Machtverteilung sind europäische Ideen.

Der Eiserne Vorhang wurde nicht durch Raketen zerstört, sondern von der Elementarkraft der Idee der Freiheit.

Auf drei Hügel ist Europa gebaut:

Der Akropolis, dem Kapitol und Golgatha (so Theodor Heuss).

Die Würde des Menschen, Freiheit und Recht sind abendländische Entdeckungen. Sie sind das Fundament unserer Leitkultur.

Europäische Neugier trieb verwegene Seefahrer auf die Weltmeere, um unbekannte Länder zu entdecken. Kein Chinese, kein Entdecker aus Amerika oder Afrika, suchte je einen Seeweg nach Europa. Wissensdurst trieb die Europäer über ihre Grenzen. Andere Hochkulturen gaben sich mit sich selbst zufrieden.

Was bleibt von der Größe des alten Europas übrig, wenn es den Nationalisten gelänge, das Rad der Geschichte zurückzudrehen? Anstelle globaler Solidarität träte dann der Konkurrenzkampf aufgeblasener, nationalistischer Überheblichkeit. Wenn alle „First“ sein wollen, wird niemand „First“ sein können. Die Welt bedarf keiner neuen Hegemonie.

Ideen retten die Welt

Nach dem Krieg litten die Menschen in Deutschland unter Hunger und Kälte. Ich habe als Kind auf fahrenden Güterzügen Kohle geklaut, damit meine Mutter und mein kleiner Bruder zu Hause nicht erfroren. Millionen von Soldaten kamen nie oder als „Krüppel“ aus dem Krieg heim. Die Westdeutschen teilten mit Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen das Bisschen, was sie hatten. Städte und Dörfer waren dem Erdboden gleich gemacht. Viele Einheimische und Dazugekommene hatten kein eigenes Dach über dem Kopf. Trampelpfade führten über Trümmerhalden, wo heute auf Prachtstraßen Passanten flanieren.

Aber trotz aller materiellen Not bewegte damals alle eine fixe Idee:

Nie mehr Krieg – aber immer Europa! Weg mit den Schlagbäumen. Das war die Quintessenz von zwei Weltkriegen, die 80 Millionen Menschen das Leben gekostet haben.

Um die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich haben wir in 70 Jahren dreimal Krieg geführt: 1870/71; 1914-1918, 1939-1945. Es ging unter anderem darum, wo ein lächerliche Grenzstein in den Boden gegraben werden solle: rechts oder links von Elsass-Lothringen? Dafür haben Millionen von Soldaten ihr Leben gelassen.

Heute gibt es keine Grenzen mehr zwischen Deutschland und Frankreich. Dafür aber Frieden. Jeder, der heutzutage hierzulande noch nicht 74 Jahre alt ist, hat noch nie in seinem Leben Krieg erlebt. Wann gab es das schon einmal in der Geschichte unseres Landes? Ist das nichts? War alles umsonst, haben wir nichts dazu gelernt?

Nation ist weder gottgegeben noch naturgewachsen. Es gibt so gut wie keine Nation in Europa, die nicht auch einmal Teil einer anderen war oder andere ganz oder teilweise „geschluckt“ hatte. Die Grenzen in Europa sind das Ergebnis von Macht, Waffen, Hochzeiten, diplomatischen Intrigen... Bismarck schuf das Deutsche Reich, nachdem er die Österreicher mit Krieg aus dem Deutschen Bund verdrängt und Frankreich trickreich mit einer gefälschten Emser Depesche in den Krieg gelockt und den bayrischen König mit viel Geld bestochen hatte, auf dass dieser der „Kaiserkrönung Wilhelm I.“ in Versailles zustimme. So konnte Ludwig I.I endlich seine Traumschlösser in Bayern vollenden. Eine Hand wäscht die andere. Die Reichsgründung war ein übles Geschäft.

Nation ist ein Geflecht von Absicht, Zufall und Willkür.

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