Norwegen Eine Frau gegen die Sucht nach Öl

Öl machte Norwegen reich und schuf den größten Staatsfonds der Welt. Doch es macht die Wirtschaft abhängig. Anita Krohn Traaseth soll das ändern und das Land auf die Nach-Öl-Zeit vorbereiten.

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Anita Krohn und Ihr Kampf gegen die Abhängigkeit von Öl. Quelle: Frederik Bjerknes

Die Norweger wissen auf den Tag genau, wann sie reich wurden. Es war der 24. Oktober 1969. Auf einer Bohrplattform in der Nordsee trat an diesem Tag erstmals eine schwarze Flüssigkeit an die Oberfläche. Dieses Öl machte die Norweger zur viertreichsten Bevölkerung der Welt.

Um diesen Reichtum zu erhalten, steht Anita Krohn Traaseth 47 Jahre später in einer Halle am Osloer Hafen und spuckt in ein kleines Röhrchen, etwa so lang wie ein Kugelschreiber. Es dauert fast fünf Minuten bis sie den Verschluss aufschraubt und sich den Fotografen zuwendet. Wie einen großen Scheck überreicht sie ihre DNA-Probe an die beiden Männer neben ihr. Der neuartige Gentest soll weltweit einzigartig sein. Die Firmenvertreter sind stolz, dass Traaseth mit den Fotografen an ihren Stand gekommen ist. Traaseth ist auf der Suche nach Ideen, die nichts mit Öl zu tun haben. Damit will sie Norwegens Wirtschaft retten. Denn seit dem Ölfund ist das Land nicht nur reich geworden, sondern auch abhängig.

Von den 5,2 Millionen Norwegern arbeiten mehr als 300.000 Menschen in der Ölbranche. 20 Prozent der norwegischen Wirtschaftsleistung und zwei Drittel aller Exporte hängen vom Öl ab.

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Doch nun erlebt das Land, was es bedeutet, wenn der Hauptmotor ausfällt. Denn die Reserven gehen aus. Das Fördermaximum, ist schon seit den Neunzigern überschritten. Die Produktion ist in den letzten 15 Jahren um mehr als 40 Prozent zurückgegangen. Und als wäre das nicht schlimm genug, bekommen die Norweger seit Jahren immer weniger Geld für ihr Öl. Ein Barrel bringt die Hälfte vom Wert aus 2014 ein. Zwar könnten die Ölpreise in diesem Jahr weiter steigen, wenn sich das Ölländer-Kartell Opec an eine beschlossene Förderdrosselung hält. Nur: Die Arbeitslosenquote in Norwegen hat sich seit 2008 bereits verdoppelt. 2015 verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt von 500,5 Milliarden Dollar auf 388,3 Milliarden.

Das Land braucht dringend einen Plan oder konkret: eine Alternative zum Öl. Und dafür hat die Regierung eine Frau beauftragt, die nicht durch die Halle gehen kann, ohne auf gemeinsame Fotos angesprochen zu werden. Anita Krohn Traaseth ist in ihrem Heimatland ein Star. Die 45-jährige Managerin kommt aus der IT-Branche; bevor der Staat sie abwarb, war sie Chefin bei Hewlett-Packard Norwegen. Nun leitet sie Innovation Norway, eine Agentur mit rund 700 Mitarbeitern. Mit diesen sucht sie nach Ideen, die vor allem ein Kriterium erfüllen: Hauptsache, kein Öl. Denn Traaseth soll Norwegen wieder unabhängig machen.

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Ölchef als Mentor

An diesem Tag hat sie ein Erfinderfestival organisiert. Die ehemalige Industriehalle ist blau angestrahlt, gleichmäßige Bässe wummern im Hintergrund, an der Decke fliegen Drohnen umher, an mehreren Ständen tasten sich Menschen mit Virtual-Reality-Brillen durch den Raum. Ein Stelldichein an Zukunftsideen und damit politisch hochrelevant. Die Wirtschaftsministerin ist bereits da, Traaseth begrüßt sie wie eine alte Freundin. Die beiden duzen sich und telefonieren alle paar Tage. Das Wirtschaftsministerium finanziert den Großteil der Organisation, mit der Traaseth die Wirtschaft umbauen soll: Sie hat dafür ein Budget von mehr als 375 Millionen Euro.

Die beiden Frauen hören erst auf zu reden, als ein kleiner Tumult in der Halle entsteht. Kronprinz Haakon und Prinzessin Mette-Marit sind gerade durch den Seiteneingang gekommen. Traaseth geht durch die Fotografen und Schaulustigen hindurch, direkt auf sie zu und umarmt sie. Traaseth ist eine Frau, die schlichtweg jeden umarmt, ob Start-up-Gründer, Lokaljournalist oder Prinz. Lernt sie neue Menschen kennen, stellt sie sich als „Anita“ vor. Als einer ihrer Mitarbeiter ihr ein Sandwich bringt, gibt sie es dem Fotografen, der sie gerade fotografieren will. Es ist auch diese unprätentiöse Art, die ihre Karriere immer wieder voranbrachte.

E-Mail an den Mentor

Mit 29 Jahren beispielsweise schreibt sie eine E-Mail an einen der einflussreichsten Männer Norwegens. Seine Adresse hat sie gegoogelt, er hat noch nie von ihr gehört. Die Nachwuchsmanagerin bittet um ein Treffen. Die Nachricht geht an Harald Norvik, den ehemaligen Chef von Statoil, dem größten Unternehmen des Landes. Der 55-Jährige ist verdutzt, gleichwohl neugierig und lädt sie ein. Als Traaseth an seine Bürotür klopft, hat sie nicht nur eine Tüte der Konditorei in der Hand, sondern auch ihren Lebenslauf. Sie stellt sich vor und fragt: „Möchten Sie mein Mentor sein?“

Norvik wird später eine ihrer vier Referenzen für den CEO-Posten bei Hewlett-Packard. Doch als die Regierung sie 2014 bittet, Innovationschefin des Landes zu werden, empfiehlt er ihr: Nimm den Job an. Auch der ehemalige Ölchef merkte, dass die Zukunft seines Landes ohne Öl entschieden wird.

Jahrzehntelang gingen Nachwuchsmanager nach Stavanger, eine Stadt an der Südwestküste. Sie liegt direkt an den Ölfeldern und ist damit das Klondike-Gebiet Norwegens, hier sitzt auch Statoil. 19.000 Norweger arbeiten für die Firma, die zu zwei Dritteln dem Staat gehört. Doch in den letzten zwei Jahren mussten bereits 1400 Kollegen gehen. 2015 brach der Umsatz um ein Viertel ein. Und wenn Statoil strauchelt, dann trifft das alle Norweger – selbst die, die noch nicht geboren sind.

Denn die Norweger haben etwas Einzigartiges geschaffen. Seit über 25 Jahren fließen alle staatlichen Öleinnahmen und -steuergelder in einen Fonds. Damit wollen sie ihren Wohlstand für zukünftige Generationen sparen. Mittlerweile hat der Fonds ein Volumen von rund 825 Milliarden Euro, welches weltweit in Wertpapiere und Immobilien investiert wird. Allein in Deutschland ist er an allen Dax-Unternehmen beteiligt. Es ist der größte Staatsfonds der Welt. Doch je weniger Geld Norwegen mit Öl umsetzt, desto geringer die Zuflüsse. Waren es 2012 noch 30 Milliarden Euro, konnten die Norweger 2015 nur noch 4,5 Milliarden zurücklegen.

Börsenbeben für die Ölmultis

„Der Ölpreisverfall war für Statoil ein Horrortrip. Doch gleichzeitig hat uns das gezwungen, neue Möglichkeiten auszuloten“, sagt Elisabeth Kvalheim, Technikchefin bei Statoil. Da die neuen Projekte finanziert werden müssten, brauche man die bestehenden Geschäftsfelder, also Öl. Und so hat Statoil im September 5,5 Milliarden Euro in den Ausbau eines Ölfeldes investiert. Zum ersten Mal seit 20 Jahren darf das Unternehmen wieder in unerforschten Gebieten des nördlichen Atlantiks nach Öl suchen. Dieses Mal waren nicht nur Umweltschützer entsetzt. Sondern auch Menschen, die Öl zu Geld machen sollen.

Nordea gehört zu den führenden Finanzkonzernen des Landes. In der Mitte des achtstöckigen Hochhauses befindet sich ein gläsernes Atrium, das Thina Saltvedt durch mehrere Sicherheitstüren betritt. Sie ist Rohstoffanalystin. Ihre Prognosen des Ölpreisverfalls 2013 waren die exaktesten des Landes. „Das ist eine hochriskante Wette, deren Einsatz die zukünftigen Generationen bezahlen müssen“, sagt sie. Sie breitet eine Karte aus, auf der sie alle Ölplattformen des Landes eingezeichnet hat. Vor allem die Punkte im Norden, in den arktischen Feldern, hat sie rot markiert. In ihren Berechnungen bedeutet das: unprofitabel.

„Früher konnte man in alles in der Ölindustrie investieren, und es lohnte sich. Heute müssen Investoren viel vorsichtiger sein“, sagt Saltvedt. Andere Länder können deutlich billiger Öl fördern als Norwegen. Die Kosten, um an den Rohstoff in der Nordsee zu kommen, sind mehr als doppelt so hoch wie in der Wüste Saudi-Arabiens. „Es könnte sein, dass die Ölindustrie irgendwann wie die Kohleindustrie wird – etwas, das man als Investor lieber nicht anfasst“, sagt sie.

Mittelständler finden neue Kunden

Die neuen Lieblingskinder der Investoren zeigen sich in der Halle am Osloer Hafen: neue Krebstherapien, Hersteller von Lernsoftware, E-Fahrzeuge. Anita Krohn Traaseth ist mittlerweile mit drei Menschen in ein Hinterzimmer gegangen. Sie setzt sich an einen Konferenztisch, um mit den Gästen aus Israel zu sprechen. Das Land gilt als vorbildlich in der Start-up-Förderung, von 1600 Menschen startet mindestens eine Person ein neues Unternehmen. Traaseth will wissen, wie die Kollegen im Nahen Osten das schaffen. In Israel bekommen Gründer hohe Fördersummen, müssen aber einen Teil davon zurückzahlen, wenn sie das Land verlassen; das gefällt Traaseth.

Rund 2800 Start-ups haben sich im vergangen Jahr beworben. „Wir geben keine Blankoschecks, es darf nie einfach sein, Steuergeld zu bekommen“, sagt Traaseth. Ihre Agentur geht gemeinsam mit den Gründern einen Katalog an Fragen durch: Was kostet die Entwicklung? Wie sieht die Kalkulation aus? Wann soll sich das Projekt selbst tragen?

Rund die Hälfte der Start-ups bekommt Geld – solange ihr Geschäft nicht vom Öl abhängt. Oder oft auch: nicht mehr vom Öl abhängen soll. Das meiste Geld geht an Unternehmen, die bereits bestehen. Denn es sind nicht nur die Ölkonzerne, die unter der Krise leiden. Sondern auch Menschen wie Kjell Leroy. Der 62-Jährige sitzt an diesem Vormittag in einem Hörsaal und fühlt sich unwohl. Als einer der wenigen trägt er einen Anzug. Die anderen – Start-up-Gründer, Wissenschaftler, Mediziner – haben Laptops auf den Knien, Kapuzenpulli an und trinken Kaffee aus Pappbechern. Leroy tritt ans Rednerpult und stellt sein Unternehmen vor: Seine Firma produziert Metallteile für die Ölindustrie. Mal sind es Pumpen, mal Verbindungsteile für Unterwasserrohre.

Er gehört zu den Mittelständlern, die ihr gesamtes Geschäft auf dem Ölrausch aufbauten. Und vermutlich wäre ihm der Hörsaal der Uniklinik fremd geblieben, wenn sich nichts an seiner Auftragslage verändert hätte. Die Ölfirmen bestellten immer seltener. Vor sechs Jahren brach der Umsatz um die Hälfte ein. „Ich merkte, dass wir uns umorientieren müssen, wenn wir in ein paar Jahren noch existieren wollen“, sagt er.

Deshalb will er nun Menschen aus der Medizinbranche kennenlernen. Traaseths Team hat die Veranstaltung organisiert, es geht um Synergien zwischen Öl- und Medizintechnik. Leroys Pumpen sollen künftig Blut statt Öl transportieren. „Die Probleme und Lösungen unterscheiden sich eigentlich kaum. Nur die Größen sind etwas gewöhnungsbedürftig“, sagt er. Medizintechnik passt manchmal in die Hosentasche, die Teile einer Ölplattform brauchen oft einen Lkw. „Die Branche ist mir noch völlig unbekannt. Das ist das Schwierigste für mich: Netzwerke aufzubauen und die neuen Kunden zu finden“, sagt er.

„70 Prozent der von uns geförderten Unternehmen sind bestehende Firmen, die sich neu orientieren“, sagt Traaseth. Die Norweger haben mittlerweile ein Wort dafür: Omstilling. Die Unternehmer sollen ihre Kompetenzen auf andere Branchen übertragen. Sie sollen neue Probleme für alte Antworten finden. „Die Nordsee ist aus meiner Sicht ein Inkubator. Jetzt müssen wir es alleine schaffen, neue Industrien aufzubauen“, sagt Traaseth. Dabei scheint es manchmal gar nicht notwendig, einen komplett neuen Schatz aufzubauen. Es reicht, wenn man manch altbekannten wiedererkennt. Denn den eigenen Energiebedarf deckt das Land mittlerweile komplett durch Wasserkraft.

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